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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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Kompliment höre sie des Öfteren.
    Schon auf der kurzen Fahrt zum Institut, am Fuße des Namsan-Berges entlang, begann Birte, die Henry noch bis zum späten Abend Frau Aschenbach nennen sollte, zu erzählen. Ihre Mutter, geboren in Busan, der Hafenstadt im Süden des Landes, war im Alter von dreiundzwanzig Jahren nach Hamburg gekommen, wo sie an der Musikhochschule ein Zwei-Jahres-Stipendium erhalten hatte. Das war Anfang der Siebzigerjahre gewesen. Als hochbegabte Cellistin fand sie schnell Anschluss an ein studentisches Streichquintett, das bei kleineren Anlässen wie Ausstellungseröffnungen, Lesungen oder Preisverleihungen Kammermusik spielte. Auf einem Empfang der Universitätsklinik lernte sie ihren späteren Mann, Birtes Vater, kennen, der dort, achtundzwanzigjährig, als Assistenzarzt arbeitete. Es dauerte zwei Jahre, bis sie heirateten, und ein weiteres, bis die erste Tochter zur Welt kam, die, der konservativen Tradition der Vatersfamilie folgend, auf den Vornamen ihrer Großmutter getauft wurde. Nach der Geburt zog die kleine Familie aus der Hamburger Innenstadt in einen ruhigen Vorort, wo sie, unterstützt von den wohlhabenden deutschen Großeltern, ein geräumiges Haus samt verwildertem Garten erwarben, das noch Zimmer für mindestens drei weitere Kinder bot. Allerdings sollte Birte das einzige Kind bleiben.
    Birtes Mutter schloss ihr Studium ab, blieb dann jedoch zu Hause, nicht zuletzt des sanften, aber beharrlichen Druckes der Schwiegereltern wegen, die behaupteten, der Platz einer Mutter sei bei ihrem Kind. Nachdem Birte mit achtzehn in eine Wohngemeinschaft nach Hamburg gezogen war und an der Universität Ostasienwissenschaften studierte, kümmerte sich ihre Mutter nur noch um den Garten und das Haus, das sie seither jedes Jahr umdekorierte.
    Birtes Vater dagegen konnte eine geradlinige Karriere vorweisen, war über die Jahre konstant aufgestiegen, hatte promoviert und sich habilitiert, war schließlich zum Universitätsprofessor ernannt worden und heute Direktor der neurologischen Klinik.
    Â»Meine Eltern reisen sehr viel in der letzten Zeit«, sagte Birte, »in die unmöglichsten Gegenden, nach Sibirien, nach Lateinamerika. Letztes Jahr waren sie mit einem Kreuzfahrtschiff in der Antarktis.«
    Henry nickte. Seine Eltern reisten nicht.
    Sie waren unterdessen am Goethe-Institut angekommen, einem modernen Flachbau mit großen Fenstern, und saßen unter schattigen Bäumen vor dem Eingang an der Namsan-Straße. Henry rauchte, und auch Birte zündete sich jetzt eine Zigarette an. Je länger sie erzählt hatte, umso langsamer war das Tempo ihres Sprechens geworden und die Stimme leiser und die Artikulation deutlicher. Im Moment schien sie sehr entspannt, wie Henry mit einem Seitenblick feststellte, sie hatte sich zurückgelehnt, die Füße von sich gestreckt, den Strohhut in den Nacken geschoben. Henry schloss die Augen: Vögel zwitscherten, der Wind raschelte mit den Blättern.
    Â»Wollen Sie eine Kleinigkeit essen?«, fragte Birte und stand auf.
    Henry wollte nichts außer schlafen oder wollte wenigstens auf der schattigen Bank sitzen bleiben und weiter Birtes Stimme zuhören, der ruhigen Erzählstimme.
    Â»Eigentlich nicht«, sagte er.
    Â»Kommen Sie, wir trinken einen Kaffee auf der Terrasse. Oder was immer Sie möchten. Man hat von dort einen phantastischen Blick auf die Stadt. Das Haus ist nämlich an den Berg gebaut, müssen Sie wissen.«
    Birte führte ihn über verschiedene Treppen und Gänge in die Kantine, einen kleinen Speiseraum, der über eine gläserne Schiebetür verfügte, durch die man auf eine Betonterrasse treten konnte. Es gab zwei Biergartentische mit jeweils zwei Bänken, einen großen Kühlschrank, einen Gasherd, ein offenes Regal für das Geschirr. Am Spülbecken war eine ältere Frau beschäftigt, zu der Birte etwas auf Koreanisch sagte. Die Frau verbeugte sich gegen Henry, dann schenkte sie aus einer Thermoskanne zwei Tassen Kaffee ein.
    Â»Wollen Sie Milch?«, fragte Birte.
    Henry verneinte. Der Kaffee sah ölig aus und schmeckte säuerlich bitter, der typische Maschinenkaffee deutscher Büros, der in der Ferne vielleicht ein Gefühl von Heimat hervorrief.
    Sie betraten die Terrasse, setzten sich an einen weißen Plastiktisch, der unter einem Sonnenschirm stand.
    Henry rauchte, während ihm Birte das Panorama Seouls erklärte, das sich

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