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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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steckte. Er trat die Zigarette aus, ging zurück in die Abflughalle und setzte sich auf eine Bank. Der Druck auf den Augen ließ etwas nach. Jemand sagte zu ihm: »Sir?« Henry sah auf, es war ein grauhaariger Koreaner.
    Der Koreaner trat einen Schritt zurück und zog hinter seinem Rücken ein Pappschild hervor, auf dem Henrys Name stand. Henry nickte. Der Koreaner deutete eine Verbeugung an und sagte: » Welcome, Sir. I’m your driver. « Dann nahm er Henrys Koffer und ging nach draußen zu einem Mercedes-Kleinbus, der in der sengenden Sonne stand. Während der Fahrer das Gepäck verstaute, musste sich Henry am Bus abstützen: Müdigkeit, Hitze und vermutlich eine ordentliche Dosis Restalkohol. Der Fahrer zog die Tür zum Fahrgastraum auf und bedeutete Henry, Platz zu nehmen, dann zog er ein Handy hervor, wählte eine Nummer, redete ein paar Worte auf Koreanisch und hielt Henry das Telefon hin: » Please, Sir, Goethe. «
    Am anderen Ende meldete sich eine weibliche Stimme, hastig, schnell, auf Deutsch. Eine Stimme, die ihn begrüßte, die ihn im Namen des Goethe-Institutes Seoul und vor allem in dem seines Direktors, Dr. Kammstetters, willkommen hieß, die sich entschuldigte, dass aufgrund eines personellen Engpasses im Hause nur der Fahrer am Flughafen sei, und die sich erst am Ende des Gespräches, in dem Henry kaum mehr als »Danke« oder »Aha« gesagt hatte, vorstellte: Birte Aschenbach, Praktikantin. Die Art, wie die Praktikantin sprach, verlieh den freundlich gemeinten Sätzen einen aggressiven Unterton.
    Â»Freut mich«, sagte Henry.
    Â»Wir sehen uns ja gleich. Ich freue mich auch«, sagte Frau Aschenbach und legte auf.
    Henry gab dem Fahrer das Handy zurück und nahm auf der hintersten Sitzbank Platz. Der Fahrer ließ den Wagen an und schaltete im Losfahren die Klimaanlage ein. Henry schloss die Augen, versuchte einzuschlafen, aber es ging nicht. Stattdessen sah er aus dem Fenster: Er war in dem Land, aus dem sein Notebook kam, sein Handy und sein Fernseher. Die Logos auf den Hochhäusern, die entlang der Autobahn standen – ein wahres Meer sandfarbener Hochhäuser, von denen Henry später erfuhr, dass sie den Firmen gehörten, deren Logos sie trugen, dass deren Mitarbeiter dort lebten –, waren die gleichen Logos, die in Berlin auf den Straßenbahnen prangten oder an Plakatwänden. Das gab dem Land etwas Vertrautes, ließ es, trotz der unlesbaren Schriftzeichen, weniger fremd wirken, als es in Wahrheit war. Ein magischer Moment des Kapitalismus, dachte Henry, kurz bevor er dann doch wegdöste.
    Die Fahrt durch die Innenstadt verschlief er und wachte erst wieder auf, als der Fahrer mit sanfter Stimme auf ihn einredete. Der Bus stand vor dem Hotel, die Türen aufgezogen, der Page, Henrys Gepäck in der Hand, wartete in der grellen Sonne, dass er ausstieg.
    Henry bekam ein Eckzimmer in der zwölften Etage des Tower-Hotels, das am Namsan-Park lag, einem bewaldeten Gebiet an den Hängen des gleichnamigen Berges, auf dessen Gipfel der 237 Meter hohe Fernsehturm mit Aussichtsplattform stand, wie Henry im Stadtführer nachlas, nachdem er aus dem südlichen Panoramafenster geblickt und die Spitze ebenjenes Fernsehturms aus dem Wald herausragen sehen hatte.
    Er stellte die Klimaanlage an, nahm eine Dusche und zog frische Sachen an: eine hellgraue Anzughose, ein weißes Hemd, keine Krawatte. Er entnahm der Minibar ein eiskaltes Bier, schob einen Sessel vor das östliche Panoramafenster und sah nach draußen: Häuser, hohe und flachere, Beton bis an den Horizont, die Linien der Straßen dazwischen, die dem Ganzen Struktur gaben. In der Ferne ein paar Hügel, darüber blauer Himmel, die Luft diesig.
    Während er mit dem Bier im Sessel saß und aus dem Fenster kuckte, kehrten seine Kräfte zurück, und er schämte sich angesichts des gewaltigen Ausblicks für Berlin, für dessen Kleinheit, für dessen Hang zum neunzehnten Jahrhundert, für die abgeschliffenen Fußbodendielen in den restaurierten Gründerzeithäusern. Das, was aus Richtung Uckermark aussah wie eine Weltstadt, wirkte von hier wie ein Kupferstich in einem stockfleckigen Buch: gemütlich, aber ohne Perspektive. Was in Berlin vor allem fehlte, dachte Henry, war der Wille zur Zukunft. Er machte eine zweite Bierbüchse auf. Das Getränk war so kalt, dass sich der erste Schluck anfühlte, als verschlucke man

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