Kopf Unter Wasser
Nägel.
(Später sollte Henry noch auffallen, dass es hier wenig Altes gab. Kein Auto älter als zwei, drei Jahre, kein Handy älter als ein paar Monate. Alte zehnstöckige Häuser riss man ab, wenn man mehr Wohnraum brauchte, und baute neue zwanzigstöckige hin. Und sie hatten recht damit, dachte Henry, das war rational.
In Berlin dagegen rekonstruierte man Schlösser, ohne einen König zu haben. Da fehlte selbst der Wille zur Gegenwart. Das Einzige, was man sich dort wünschte, war, in einer Puppenstube zu leben, sicher und behütet. Mit anderer Wandfarbe immerhin als der Nachbar, ein Tribut an den Individualismus, diese kontraproduktive Seuche des Westens, dachte er.)
Er sah sich nach einem Aschenbecher um, entdeckte stattdessen das Rauchverbotsschild an der Tür und die Sprinkleranlage an der Decke. Er nahm die Zigaretten und wollte gerade aus dem Zimmer gehen, um unten eine zu rauchen, als das Telefon klingelte.
Er nahm ab, es war Birte Aschenbach, die im Foyer wartete, um ihn ins Goethe-Institut zu begleiten. In drei Stunden sollte dort seine erste Lesung beginnen. Er könne vorher noch eine Kleinigkeit in der Kantine essen, falls er möge, die koreanische Köchin sei sehr gut, und falls er wolle, könne sie ihm anschlieÃend die Räumlichkeiten des Hauses zeigen.
Vielleicht war ihre Nervosität schuld an dieser grauenvollen Telefonstimme, vielleicht versucht sie, Unsicherheit mit forschem Auftreten zu kaschieren, dachte Henry und sagte, dass er in wenigen Minuten im Foyer sei.
Er steckte sein Buch in die Jacketttasche, fuhr nach unten, sah sich flüchtig um, konnte aber nur Koreaner entdecken, weshalb er nach drauÃen in die Hitze trat und sich eine Zigarette anzündete. Auf dem Parkplatz wartete der Mercedes-Bus, der Fahrer kniete im Schatten des Fahrzeugs und rauchte ebenfalls. Als er Henry bemerkte, erhob er sich und deutete eine Verbeugung an. Henry nickte zurück. Ein dritter Raucher trat aus dem Hotel und gesellte sich zu Henry an den kübelgroÃen, mit Sand gefüllten Aschenbecher. Er trug einen lindgrünen Anzug, eine Pilotenbrille mit vergoldetem Gestell und telefonierte beim Rauchen. Nach jedem Zug rotzte er geräuschvoll in den Ascher. Henry wandte sich ab. Der Fahrer hatte sich zurück in den Schatten gehockt. Der Mann im Anzug verschwand wieder im Hotel. Henry warf die Kippe in den Ascher und zündete sich die nächste Zigarette an. Er versuchte, nicht in die Richtung des Fahrers zu sehen, weil er befürchtete, der könne sich, falls sich ihre Blicke erneut trafen, ein weiteres Mal erheben und verbeugen.
Er hörte, wie sich die automatische Hoteltür hinter ihm öffnete. Im nächsten Moment tippte ihm jemand auf die Schulter, was hier in der Fremde so unerwartet kam, dass er sich erschrocken umdrehte. Hinter ihm stand eine junge Koreanerin, ihre rechte Hand, die ihn offensichtlich berührt hatte, noch erhoben, und wich nun, da Henry sie überrascht ansah, einen Schritt zurück.
Doch schon im nächsten Moment fasste sie sich, ihre Gesichtszüge entspannten sich, und um ihre wunderbar geschnittenen Augen bildeten sich freundliche Lachfältchen, bevor sie den Mund öffnete und etwas zu Henry sagte.
Für eine Asiatin, fand Henry, war sie relativ groÃ, nur ein, zwei Zentimeter kleiner als er selbst. Sie war nicht das, was man sich unter zart vorstellte, schlank zwar, aber dennoch robust irgendwie. Sie trug ein limonenfarbenes Polokleid, weiÃe Sandalen und auf dem Kopf einen Strohhut. Während Henry noch überlegte, ob ihr Haar tatsächlich schwarz braun war oder ob es im hellen Sonnenlicht nur so erschien, hatte sie aufgehört zu sprechen, lächelte ihn an und wartete wohl, dass er etwas entgegnete.
Und indem er versuchte, eine Antwort zu formulieren, etwas Nettes, Belangloses, wurde Henry klar, dass er das Gesagte verstanden hatte, denn die Koreanerin hatte akzentfrei auf Deutsch zu ihm gesprochen. Im nächsten Moment erkannte er auch die Stimme, obwohl sie eben viel sanfter geklungen hatte als vorhin am Telefon: Die Koreanerin mit dem Strohhut war niemand anderes als Birte Aschenbach, Praktikantin.
Henry deutete eine Verbeugung an und sagte, dass er froh sei, von einer Koreanerin begrüÃt zu werden, die nicht nur hübsch sei, sondern obendrein perfektes Deutsch spreche.
Sie erwiderte die Verbeugung, halb ironisch, halb im Ernst. Sie gab ihm die Hand und lachte: Ja, dieses
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