Kopfgeldjagd
Märchen der Gebrüder Grimm. Mit 15 studierte ich Erich Fromm, mit 16 las ich Dostojewskis Der Spieler und Schuld und Sühne , André Gides Die Verliese des Vatikans , Tolstoi und Carnegies Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden . Mit 17 studierte ich die Existenzialisten, Kierkegaard und Nietzsche. Als ich nach Harvard ging, hatte ich wahrscheinlich fast tausend Bücher gelesen – aber nur sehr wenige aus dem Lehrplan.
Bis zur zehnten Klasse waren meine Noten unterirdisch. Im Unterricht litt ich unter einer chronischen monotoniebedingten geistigen Abwesenheit. Außerdem war ich hyperaktiv und unstet. Mein überdimensionaler Körper wurde in Stühle gepresst, die für Zwerge gemacht zu sein schienen, aber nicht für einen heranwachsenden Riesen. Auf der anderen Seite erzielte ich in den Fächern gute Leistungen, die von außergewöhnlichen und fesselnden Lehrern unterrichtet wurden. Mehrere Lehrer hielten mich für intellektuell überfordert. Andere hielten mich für begabt. Niemand hielt mich für normal. Ich hasste Autorität und langweiligen Stoff, der von noch langweiligeren Lehrern vermittelt wurde. Ich fragte mich, was diese introvertierten Figuren in einem Beruf taten, der Interaktion und Extrovertiertheit verlangte. Sie schafften es, dass 15 Minuten wie fünf Stunden wirkten. Sie beleidigten meine Wissbegier, quälten meine Seele und gaben meiner Frustration Nahrung.
In der zehnten Klasse riet mein Biologielehrer Mr. Barclay meinen Eltern, mich in eine Sonderschule für geistig Minderbemittelte zu stecken. Meine Noten lagen Meilen unter dem Klassendurchschnitt; in den ersten drei Quartalen des Jahres hatte ich drei Sechser bekommen. Die Vorstellung, mir – dem geistig Minderbemittelten – zu erlauben, die Biologieprüfung des Internationalen Abiturs abzulegen, erschreckte ihn zu Tode, weil er fürchtete, mein völliges Versagen würde den Notendurchschnitt der anderen, weitaus intelligenteren Schüler senken, die an dieser anspruchsvollen Prüfung teilnahmen. Meine Eltern beharrten aber darauf und ich machte die Prüfung. Ich bekam die zweitbeste Note von 20 eifrigen, bienenfleißigen und kriecherischen Schülern. Mr. Barclay gab mir eine Eins für das letzte Quartal des Jahres und eine Zwei minus für das gesamte Jahr. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, wie aus drei Sechsern und einer Eins ein Notenschnitt von Zwei minus werden kann, aber so war es.
Mein Selbstvertrauen nahm allerdings beträchtlich zu, als ich begann, auf einem sehr hohen Niveau Sport zu treiben. Zum ersten Mal erhielt ich auch regelmäßig vorzeigbare Noten. Im dritten Jahr waren meine Noten, zusammen mit den Noten des Internationalen Abiturs und meinen Ergebnissen im Intelligenztest so gut, dass ich ein einjähriges akademisches Stipendium mit voller Kostenübernahme des American Field Services erhielt, um eine Highschool in den USA zu besuchen. Unterdessen erreichte meine Beziehung zu meinen Eltern wöchentlich neue Tiefpunkte. Ich lebte praktisch mit meiner 18-jährigen Freundin zusammen, experimentierte mit Haschisch und benutzte mein Elternhaus lediglich als gelegentliche Polstermatte, Cafeteria und Waschsalon. Ich verfolgte intensiv meine schulische Ausbildung und meine sportlichen Aktivitäten und beging nebenbei kleinere Diebstähle und ging ausgefallenen Jobs nach, um mir eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit zu sichern.
Mein Stipendium beinhaltete die Unterbringung bei den Sampsons, einer hart arbeitenden, fürsorglichen, aber sehr rigiden christlich-fundamentalistischen Familie im Mittleren Westen der USA, genauer gesagt, in Livonia, einem Vorort von Detroit im Bundesstaat Michigan. Alle Privilegien, an die ich mich gewöhnt hatte, waren augenblicklich dahin. Keine Orgien mehr im Villenpool; ich durfte nicht einmal Mädchen mit aufs Zimmer nehmen. Kein Riesling Spätlese mit Foie gras mehr im Schloss Kronberg oder Weizenbier mit geräucherten Rippchen und Sauerkraut in Sachsenhausen. Keine spontanen zweitägigen Kurztrips mehr nach Paris oder Amsterdam. Ich hatte ganz entschieden Heimweh und empfand nie mehr Wertschätzung für meine toleranten Laissez-faire-Eltern als im ersten Monat meines Besuchs an der Livonia Bentley High School, dem Zuhause der Basketballmannschaft The Bulldogs.
Was mir den Kopf zurechtrückte, war ein ernstes Gespräch mit meiner amerikanischen Gastmutter Geraldine, die mir von ihrer kurz zuvor erfolgten Brustoperation und ihren Eheproblemen erzählte.
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