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Kopfgeldjagd

Kopfgeldjagd

Titel: Kopfgeldjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Homm
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Pietätlosigkeit und seinen Überlebensinstinkten beeindruckt. Außerdem war er großzügig. Wenn er ein Restaurant besuchte, stellte er sich immer vor, am Tisch sitze ein zusätzlicher Gast, für den er dasselbe ausgab wie für alle anderen, und diese Summe gab er als Trinkgeld. Zu Weihnachten gab er Hajo und mir je 50 D-Mark – eine unvorstellbare Summe für ein Kind –, dafür sollten wir in den See auf seinem Grundstück waten und ihm eine Wasserrose pflücken. Mutter hielt mich schreiend zurück, als ich bereits knietief im eiskalten Wasser stand, aber ich ging weiter, um Necko seine Rose zu bringen.
    Als ich 16 war und mich für die deutsche Junioren-Basketballmannschaft qualifizierte, wurde sein Interesse an mir und meiner Zukunft größer. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe bot mir ein sehr nützliches Taschengeld, wenngleich Necko keine Ahnung hatte, dass ich zu den geförderten Athleten gehörte. Es erlaubte mir, mich standesgemäß im berühmten Schlosshotel Kronberg einzuquartieren, als die wüsten Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern epische Dimensionen annahmen. Dieser Einzelkämpfer hatte alle Höhen und Tiefen des Lebens kennengelernt. Er hatte Himmel und Hölle auf Erden gesehen. Er war ein bedeutendes Mitglied der NSDAP, ein Industriegigant, ein schamloser Opportunist, eine historische Figur, ein großer Sportler, ein wichtiger Philanthrop und eine echte Berühmtheit. Er war schwerreich, und als sich sein Konzern übernahm, verlor er den größten Teil seines Vermögens. Kurzum, Necko wurde mein Idol und mein Leitmotiv (bis auf den ­Nazischeiß).
    Das Einzige, was mich außer dem Nazischeiß wirklich an ihm störte, war seine schwache, selbstbeweihräuchernde Autobiografie. Darin behauptete er, er habe vom Holocaust und den abscheulichen Nazipraktiken nichts gewusst (das war für jemanden in seiner Position nicht möglich, es sei denn, er war taub, stumm, dumpf und hirnamputiert), und spann eine lange erfundene Geschichte, mit der er sein Verhalten gegenüber Joel senior verteidigte. Er beschrieb sich als Opfer der Umstände – unvorhergesehene historische Ereignisse hätten verhindert, dass seine Zahlungen Joel erreichten. Kurzum, das übliche Geschwafel, um das eigene skrupellose Verhalten zu rechtfertigen. Während Necko sein Textilimperium mit Aufträgen und der vollen Unterstützung der Naziregierung ausdehnte, war Joel senior ein frisch in New York eingetroffener, bettelarmer Immigrant mit einer düsteren Zukunft. Ich kann irgendwie nicht glauben, dass die Überweisung aus Gründen scheiterte, die sich außerhalb Neckos Kontrolle befanden. Er haute Joel übers Ohr und musste dafür nach dem Krieg bezahlen. Jede andere Erklärung halte ich für ein Märchen.
    Endlich hatte ich jedoch eine Zukunftsorientierung. Ich würde in allen Aspekten des Lebens, die Necko wichtig gewesen waren, der Beste sein, sei es Sport, Geschäft, Macht, Reichtum, Auseinandersetzungen oder sogar ein schlechter Ruf. Einige Aspekte waren mir jedoch egal, und das Streben nach Freundschaft und einem erfüllenden Familienleben kam mir nie in den Sinn. Necko war weder ein großartiger Vater noch ein überzeugender Familienmensch gewesen. Er hatte im Verlauf seiner gesamten langen Ehe eine ständige Geliebte und war selten zu Hause. Glück, Freunde und Familie und andere ähnlich nicht quantifizierbare Dinge waren daher ebenfalls nie Teil meines Masterplans. Mir gefiel die allgemeine Vorstellung, ein gottgleicher Patriarch zu sein, solange ich nicht an all den zahllosen, nervtötenden Familienveranstaltungen teilnehmen musste. Es dauerte drei Jahrzehnte, bis ich verstand, dass Familie, genau wie Hunde, nicht nur für den Weihnachtsabend vor dem Kamin da ist.
    2. Sturm und Drang
    Ich habe nie zugelassen, dass die Schulerziehung meiner Bildung in die Quere kam.
    Mark Twain
    Mit 15 Jahren begannen Neckos Einfluss und meine angeborene Hyperaktivität sich zu kanalisieren und Früchte zu tragen. Ich hatte Informationen stets wie ein Schwamm aufgesogen, war an Schule aber völlig desinteressiert. Ich verschlang mehr als 100 Bücher pro Jahr, zumeist Romane und Lehrbücher über Proxemik, Körpersprache, Mimik, Hypnose, Grafologie, Massage, Physiognomie, Farbenanalyse, Psychologie und anderes komisches Zeug. Als Kind trug ich den Spitznamen HCA (für Hans Christian Andersen), weil ich zur Übertreibung neigte und Fiktion oft mit Realität verwechselte. Besonders gefielen mir die Abenteuergeschichten von Karl May und die

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