KOR (German Edition)
verbarg, so stellte man sich dieses Ding einfach vor. Der Aberglaube besaß die Funktion, die grässlichen Vorstellungen zu benennen und zu kategorisi e ren. Die Welt des Unbekannten erhielt eine gewisse Logik. Die abergläubischen Vorstellu n gen von Dämonen und bösen Geistern schufen eine Welt, die parallel zum menschlichen Alltag existierte. Prähistorische Menschen kreierten mit dieser Methode Frühformen wissenschaftlichen Denkens, i n dem sie mit ihrem auf Rituale n und Glauben basierten System das Vorhande n sein sämtlicher Dinge erklärten. Yui wusste nicht, wie oft sie diese seit dem 19. Jahrhundert existi e renden Thesen in ihren Seminaren vorgestellt hatte. Es hatte alles einen Sinn ergeben. Bis jetzt. Ihre Seminartexte verkamen zu bl o ßen Worthülsen.
Sie spürte diese Präsenz, als stünde direkt vor ihr ein realer Mensch. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Ding schlich sich näher. Yui presste sich so stark gegen die Spiegelwand, dass der Griff schmerzvoll gegen ihr Rüc k grat stieß. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie fühlte, wie sich das Ding lan g sam näherte. Es belauerte sie. Es gab keine Möglichkeit zur Flucht.
Yui spürte, wie das Ding sie anstarrte. Sie beobachtete. Ihre Angst ausko s tete.
Auf einmal blendete sie das Deckenlicht.
Sie kreischte auf, als sie es vor sich sah. Dann sackte sie erschöpft zu B o den. Sie hatte sich vor ihrem eigenen Spiegelbild erschreckt. Diese Erkenntnis entlockte ihr ein humorloses Lachen.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Er fuhr hinunter in die Garage. Die Tür öffnete sich wie ein schalkhaftes Lächeln. Die eisige Luft, die ihr entg e genströmte, tat unwahrscheinlich gut.
Vor ihr standen Simon und Mason. Der Soldat hielt noch die Brec h stange in der Hand.
„Dieser verdammte Fahrstuhl“, sagte sie. Ihr Herz hämmerte noch immer gegen ihre Brust.
„Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Miss“, erwiderte Mason.
„Wie konnte so etwas überhaupt passieren?“, wunderte sich Simon.
„Der Aufzug hat sich vorhin ebenfalls selbst st ändig gemacht“, erinnerte ihn Mason. „Ich schlage vor, dass ab jetzt alle nur mehr das Treppenhaus benu t zen. Sie sehen wirklich mitgenommen aus, Miss.“
Yui quittierte seine Beobachtung mit einem müden Grinsen. Sie wollte nichts anderes mehr, als aus dieser stickigen Kabine verschwinden. Gerade als sie die Schwelle überquerte , schloss sich die Tür mit einem lauten Zischen. Yui stolperte und fiel zu Boden. Ihr linkes Bein war eingeklemmt.
„So langsam reicht’s mir.“ Sie setzte sich auf. Die Tür drückte sich so stark gegen ihr linkes Schienbein, dass sie ihren Fuß nicht herausziehen konnte. Die dicke Fütterung ihrer Stiefel reduzierte den Schmerz.
„Das haben wir gleich.“ Mason fasste sie unter die Achseln, um sie von dem Fahrstuhl wegzuziehen. Es nutzte nichts. Sie blieb eingekeilt.
„Probieren wir es mal damit.“ Simon nahm die Brechstange und steckte sie in den schmalen Türspalt. Mit Hebelbewegungen versuchte er, den Spalt zu erweitern. „Das gibt es doch nicht!“ Trotzdem er mit aller Kraft gegen die Tür drückte, rührte sie sich nicht.
Der Fahrstuhl bewegte sich plötzlich um wenige Zentimeter nach oben.
Yui wurde über das Eis gezogen. Mit weit aufgerissenen Augen star r te sie auf den Türspalt, ihr eingeklemmtes Bein sowie den unteren Rand der Kab i ne, der nun über dem Boden schwebte. „Was … Was soll das?“
„Wir müssen Sie so schnell wie möglich davon befreien“, drängte Mason. Er packte sie erneut unter den Achseln. „Mr. Radcliffe, versuchen Sie, ihren Stiefel aus dem Spalt zu bekommen.“
Simon ließ die Brechstange fallen und zerrte an Yuis Bein.
Der Fahrstuhl setzte seine Aufwärtsbewegung um einen halben Meter fort. Yui schrie auf, als sie von Mason weggerissen wurde. Mit ihrem rechten Fuß trat sie gegen die Metalltür, brachte allerdings nichts anderes zustande als eine Reihe hohl klingender Töne.
„Beeilen Sie sich, Mr. Radcliffe!“, rief Mason.
„Was glauben Sie, was ich mache?“ Simon zog verzweifelt an ihrem Unte r schenkel.
Der Fahrstuhl fuhr um weitere dreißig Zentimeter empor.
Yui baumelte wie ein totes Reh in einem Stillleben vom Türspalt. Nur mehr Kopf und Schultern berührten den Boden. Ein schmerzhaftes Ziehen jagte durch ihr linkes Bein. Das durfte einfach nicht wahr sein. Würde der Aufzug sich das nächste Mal bewegen, ohne gleich wieder anzuhalten, würde ihr Bein zwischen Kabine und Schacht
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