Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
Inanna sich erinnerte, bevor ihre Sinne schwanden, war Enshagag, die den Mund zu einem Schrei aufriß und deren Gesicht von einem Kranz brennender Haare umrahmt war.
     
    Inanna öffnete die Augen, als Seb ihr den Speer aus dem Rücken zog. Unerträglicher Schmerz wie Eis und gleichzeitig sengende Hitze, die den ganzen Körper ausfüllte. Bitte, Seb, laß den Schmerz aufhören, wollte sie sagen, aber ihr schien die Stimme abhanden gekommen zu sein. Seb hatte sie aus dem Lager den Hang hinaufgetragen. Unten war das Gefecht noch nicht zu Ende. Sie zwang sich dazu, die Augen aufzuhalten, und sah zu, wie Seb seinen Umhang zerriß und ihr mit den Stoff streifen die Wunde verband. Er küßte sie, und sie war froh, die Wärme seiner Lippen zu spüren. Aber der Schmerz war ständig da, war wie der Himmel ständig über ihr. Ihre Gedanken verschwammen. Schmerz ist wie der Himmel, über den die Vögel fliegen, und er ist so gewaltig groß, daß vielleicht sogar ich dort fliegen könnte.
    »Inanna!« Seb rüttelte sie. Seine Stimme war so weit fort. Hatte er sie verlassen? Sie wollte ihm zurufen, näherzukommen und lauter zu sprechen. Dann bemerkte sie verwundert, daß ihm Tränen über die Wangen liefen.
    »Seb«, sagte sie leise, aber irgend etwas ballte sich in ihrer Brust zusammen und brachte sie zum Husten. Das Husten drohte sie zu zerreißen, und jeder Atemzug war wie ein Messerstich. Seb hob sie hoch und marschierte mit ihr zu der Fackellinie.
    »Ruhig«, befahl er grob. »Sei jetzt ganz still.«
    Inanna spürte, wie der Knoten in der Brust sich allmählich auflöste und der Hustenreiz nachließ. Sie brachte sogar ein mattes Lächeln zustande. »Mir geht es gut«, sagte sie und verlor dann wieder das Bewußtsein.
    Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, war der schlimmste Schmerz vergangen. Jemand hatte ihr einen sauberen Verband um die Brust gewickelt. Seb saß neben ihr. Wo waren sie hier? Irgendwo unter Büschen. Ja, Wacholderbüsche. Inanna erkannte sofort die blauen Beeren wieder und atmete den vertrauten, scharfen Geruch ein. Das Sonnenlicht, das durch die Blätter drang, war angenehm warm und goldfarben wie Butter. Es mußte bereits Nachmittag sein.
    »Warum verstecken wir uns?«
    Seb legte einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihr so, still zu sein. Dann hielt er einen Wasserschlauch in den Händen und flößte ihr ein wenig von der Flüssigkeit ein. Das Wasser war lauwarm und schmeckte abgestanden, aber Inanna trank gierig. Als sie sich mühte hochzukommen, schnitt der Schmerz wieder wie eine Messerschneide durch ihre Brust und raubte ihr den Atem. Seb griff ihr unter die Arme. Inanna entdeckte, daß nur eine Handvoll Soldaten bei ihr waren. Sie schienen Angst zu haben. Einer hielt eine zerbrochene Trommel in den Händen.
    »Wo sind die anderen?« flüsterte sie.
    Seb kam mit seinem Mund ganz dicht an ihr Ohr. »Noch im Lager. Sie kommen wohl nie mehr zu uns.«
    Das ergab für Inanna keinen Sinn. Sie hatte doch selbst gesehen, wie ihre Gefährtinnen die Nomaden bekämpft hatten und fast immer siegreich geblieben waren. Sie erinnerte sich an die brennenden Zelte, an die Rauchschwaden und an den toten Pulal zu ihren Füßen. Was erzählte Seb denn da? Natürlich hatten sie diese Schlacht siegreich beendet. »Und die Hauptstreitmacht?« Ihr Atem ging rasselnd, und jedes Wort zerrte wie ein Angelhaken in ihrem Hals. »Lyra ...«
    »Sie sind nie gekommen.«
    »Wieso?«
    »Das wissen wir auch nicht.« Er legte sie auf einen Blätterhaufen und hielt ihr die Hand über die Augen, um sie vor dem Sonnenlicht zu schützen. »Versuch jetzt zu schlafen«, sagte er sanft.
    Am nächsten Morgen meldete die einzige überlebende Aufklärerin, daß die Nomaden in der Nacht ihr Lager abgebrochen hatten und geflohen waren. Sie hatten nichts als die abgebrannten Zelte und die Körper der Gefallenen zurückgelassen.
    »Und unsere Truppen?« brachte Inanna mit Mühe hervor. »Hast du keine Spur von ihnen gefunden?«
    »Doch, meine Königin«, antwortete die Kundschafterin düster. Sie reichte Inanna eine Wolltasche. Darin befanden sich Haarlocken von den Köpfen der Soldaten, die in der Schlacht gefallen waren. Einige waren angesengt, andere blutbefleckt. Inanna zählte die Locken und wurde immer zorniger.
    »Warum ist Lyra nicht rechtzeitig gekommen?« rief sie empört. Sie wollte noch mehr sagen, aber ein Hustenanfall raubte ihr fast wieder die Besinnung. Seb nahm ihr die Tasche aus den Händen, hob ihren Kopf und gab ihr

Weitere Kostenlose Bücher