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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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der anderen Seite. Plötzlich gab eine Kundschafterin das Zeichen, sofort stehenzubleiben.
    »Wir sind da«, flüsterte sie Inanna zu.
    Die Wände der Schlucht senkten sich gleichmäßig zu einer langen, schmalen Wiese. Als Inanna den Neigungswinkel der Felswände bemerkte, sah sie es als großes Glück an, so lange unterwegs gewesen zu sein. In der stockfinsteren Nacht wären sie über die schwarzen Zelte gestolpert, ehe sie bemerkt haben würden, daß sie schon da waren. Im trüben blauen Licht der Dämmerung aber ließen sich bereits schemenhaft die Ziegen und Schafe und die dünnen Rauchfäden der Kochfeuer vom vergangenen Abend ausmachen. Der vertraute Anblick weckte Heimweh in Inanna. Dort unten am Hang, der dem Pfad am nächsten war, standen in einem Kreis die Zelte der Kur. Utu und Enlil hatten etwas weiter unten ihre Lager aufgeschlagen. Inanna sah sich alles genau an, aber auf Kur verweilten ihre Blicke am längsten. Zelt um Zelt benannte sie in Gedanken die jeweiligen Bewohner. Das große, mit einem bräunlichen Ton versehene schwarze Zelt gehörte Kisim und seiner Familie. Das kleine daneben war das Heim von Ur und seiner Frau. Dann kamen die Zelte von Nirrda und Amurru, dann das der alten Bismaya und schließlich das von Saptu, der es vorzog, allein zu bleiben, und immer die Kinder verjagte, wenn sie beim Spielen seinem Feuer zu nahe kamen.
    Am Rand des Lagers stand unter einer hohen Eiche das Zelt von Hursag. Inanna spürte eine sonderbare Mischung von Sympathie und Schuldgefühl. Die Luft stand so still, daß nicht einmal eine Zeltplane bewegt wurde. Die letzten Scheite glühten trübe in den Feuern. Wie viele Male hatte sie in diesem Zelt geschlafen? Hur-sag war immer gut zu ihr gewesen. Ob er immer noch lebte? Ob Dug ihm immer noch das Essen verbrannte und mit ihm schimpfte, wenn er hustete? Inanna ertappte sich dabei, wie sie hoffte, der alte Hursag möge ihrem Angriff irgendwie entkommen. Als sie ihren Blick weiterschweifen ließ, verschwanden mit einem Schlag alle Sympathie und alles Mitleid.
    Ein riesiges Zelt erhob sich dort, eines wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es stand auf einer kleinen Anhöhe und dominierte das ganze Lager. Ein feiner Baldachin aus flammroter Wolle war über dem Eingang angebracht, und neben der Feuerstelle war wie ein Banner ein Eschenstab in den Boden gerammt. Inannas Erregung steigerte sich so sehr, daß kalter Schweiß auf ihre Hände trat. Sie brauchte nicht lange nachzudenken, um zu wissen, daß dies das Zelt von Pulal sein mußte. Sie betrachtete das Vordach, und dabei fiel ihr sein Gewand ein, das er getragen hatte, als er die Opfer für den Vulkan auswählte: ein ebenso rotes Stück mit einem Flammenmuster an den Säumen. So viele Jahre war das schon her. Damals war sie noch ein Kind gewesen, das nur zusehen, aber nichts dagegen unternehmen konnte. Inannas Finger umschlossen den Wandelstein. Sie wünschte sich den Sieg und Pulal den Tod. Der Wolf in ihr erwachte mit einem großen Satz zum Leben und war zum sofortigen Angriff bereit. Guten Morgen, lieber Bruder, dachte sie, träume rasch, denn dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Geräuschlos kroch sie zu ihrer Truppe zurück.
    Jetzt?
fragte Seb mit den Augen.
    Ja,
antwortete Inanna auf die gleiche Weise.
    Der Boden war weich. Sie steckten die Fackeln in einer langen Reihe am Hang entlang und entzündeten hinter einem Felsen ein kleines Feuer. Binnen kurzem war alles bereit. Der Plan war einfach, aber Inanna ging ihn in Gedanken noch einmal gründlich durch, um festzustellen, ob sie keinen Fehler begangen hatte. Sie wollte mit zwanzig Soldaten ins Zentrum des Kurlagers vorpreschen. Mit ihnen wollte sie so viele Zelte wie möglich in Brand stecken. Sobald die ersten Zelte Feuer gefangen hatten, war das das Zeichen für den Rest der kleinen Streitmacht, die Fackeln zu entzünden und die Trommeln zu schlagen. Andere kleine Trupps würden das gleiche bei den beiden anderen Lagern besorgen, sich danach rasch wieder zurückziehen und an einer anderen Stelle erneut zuschlagen. Inannas Strategie bestand darin, die Nomaden aufzuscheuchen, in Verwirrung zu stürzen und sie glauben zu machen, das Tal sei von der kompletten Armee der Stadt umzingelt. Die raschen kleineren Angriffe sollten so lange fortgesetzt werden, bis Lyra mit der Hauptstreitmacht angekommen war. Seb hatte sie eindringlich zu überzeugen versucht, daß besser er den ersten Trupp anführen würde und sie zurückblieb. Aber Inanna hatte darauf bestanden,

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