Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
tiefer Kehle hervorsprudelte, dieses herrliche, hemmungslose Gelächter eines kleinen Jungen, das er sich nur noch erlaubte, wenn wir allein waren. Er wandte mir das Gesicht zu und schaute mich mit seinen blauen Augen an.
»Bist du sicher, dass das kein Stein war, Charlie?«, fragte ich dann. Bloß, um ihn lachen zu hören.
Ich dachte immer, ich könnte es erkennen, einfach indem ich ihm in die Augen schaute, ich glaubte, ich könnte in seine Seele blicken und sehen, was er gerade dachte. Ich war überzeugt, dass ich merken würde, wenn ihn etwas bedrückte -jederzeit.
Aber schließlich müssen Jungs ja zu Männern werden. Sie müssen lernen, sich vor nichts zu fürchten oder es wenigstens nicht zu zeigen. Schon mit neun Jahren.
Ich erinnere mich, dass wir in diesem ersten Sommer einmal an einem heißen, schwülen Tag zum Fluss hinuntergefahren waren. Von dem Schlamm unter unseren Füßen stieg Dampf auf. Der Fluss führte mehr Wasser als sonst, braun und schäumend toste er dahin. Es hatte eine Woche lang ununterbrochen geregnet. Ich betrachtete prüfend die Strömung, um das Risiko abzuschätzen, und zögerte. Ein Baumstamm sauste an uns vorbei auf die brücke zu. Viel zu schnell.
»Nein.« ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Kommt nicht in Frage.«
Aber Marc und Charlie hatten sich schon ausgezogen und rannten begeistert den Weg zu unserer Absprungstelle entlang. Ich rief nach ihnen, aber sie schienen mich nicht zu hören. Einen Moment lang beobachtete ich Marc, denn ich dachte, er würde stehen bleiben, aber er drehte sich nicht einmal um - kein einziges Mal -, um sich davon zu überzeugen, ob ich ihnen folgte. Denkt er denn gar nicht nach?, fragte ich mich. Will er Charlie einfach in die reißenden Fluten springen lassen? Sie waren schon fast an unserer Stelle angelangt, da schrie ich noch einmal, diesmal aus Leibeskräften:
»Marc, stopp!«
Er drehte sich um, lächelte mich an und bedeutete mir nachzukommen. Ich hob die Hand mit gespreizten Fingern, doch er deutete diese Geste offenbar als Winken, denn er winkte zurück. Verrückter Franzose! Dann sprang er.
Und unser Sohn stand vorgebeugt am Flussufer und war im Begriff, es ihm nachzumachen.
»Nein, Charlie!«, kreischte ich.
Aber es war zu spät. Er hatte mich offenbar gehört, hatte die Panik in meiner Stimme bemerkt und sich entschieden, Marc zu folgen, diesem größeren Lausejungen, seinem Vater. Er sprang, ohne auch nur einen Seitenblick in meine Richtung zu werfen. Also sprintete ich los, zu Tode erschreckt; ich wollte hinter ihnen herspringen, sie irgendwie retten - sie erst herausziehen und anschließend beide umbringen. Doch dann stoppte ich plötzlich, denn ich entdeckte, dass Charlie nun fast auf gleicher Höhe mit mir war, er trieb so schnell dahin wie der Baumstamm zuvor. Ich konnte sein Gesicht sehen, nur sein Gesicht, das im Wasser auf und ab tanzte. Als ich seinen Blick bemerkte, blieb mir fast das Herz stehen.
»Charlie!« Ich heulte auf wie ein verletzter Hund.
Als ich sprang, presste die Angst mir wie ein Schraubstock das Herz zusammen. Ich hatte keine Zeit, mich nach Marc umzublicken. Schon während ich ins Wasser eintauchte, schwamm ich mit aller Kraft, eine Gejagte, eine Verrückte, die gegen den Strom schwamm wie Charlies rosaroter Lachs.
Am lebhaftesten erinnere ich mich an das Gefühl, als ich Charlie packte, sein kaltes Fleisch unter meiner Hand, meine kratzenden Fingernägel, als ich wie rasend nach seiner Schulter griff und sie umklammerte. Ich hatte ihn. Wir rasten zusammen flussabwärts. Aber ich hatte ihn.
In hohem Tempo trieben wir auf die brücke zu. Schon ragte sie über uns auf, eine riesige Metallspinne, die über dem Fluss kauerte. Und in ihrem Schatten dachte ich: Hier müssen wir raus. Aber wir verpassten die richtige Stelle und trieben weiter. Immer weiter.
Wirre Bilder gingen mir durch den Kopf, Bilder wie detaillierte Wandteppiche, die sich allmählich auflösten. Es heißt ja, dass unmittelbar vor dem Sterben das ganze Leben noch einmal an einem vorüberzieht. Aber ich dachte an den Tod eines anderen Menschen, an den Tod von Serge, Marcs Freund aus Kindheitstagen. Die beiden stammten aus demselben Dorf, aus Ozouer-le-Voulgis, einem winzigen mittelalterlichen Ort, umgeben von Wald und durchschnitten von dem Fluss Yerres. Serge war Fischer gewesen - ein großer, kräftiger Mann, une force de la nature, eine Naturgewalt, wie Marc zu sagen pflegte. Eines Sonntags war er nachmittags mit seinem Hund
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