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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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verschmolzen, in der er nur schwache Geräusche und undeutliche Bewegungen wahrnahm. Als die Musik lostobte, wäre er am liebsten geflohen. Das war Folter, das konnte nicht Pilars Ernst sein!
    Es musste in diesen Sekunden gewesen sein, dass ihn ein Luftzug streifte. Der Hauch eines neuen Geruchs, eine Bewegung in der Nähe, eine leichte Berührung seiner Schulter, als ob jemand ein Stückchen zur Seite getreten oder jemand hinzugekommen wäre – nichts Ungewöhnliches in einer Gruppe von Menschen. Aber er war Detektiv, in seiner Ausbildung hatte er trainiert, auf solche Kleinigkeiten zu achten, Schlüsse zu ziehen und nicht alles für harmlos und normal zu halten. Und genau das hatte er getan! Der Spürsinn lag ihm nicht im Blut, so war es doch! Auch wenn niemand ihm etwas vorwerfen würde, belastete ihn der Gedanke, dass er die Tat hätte verhindern können, falls er seine Wahrnehmungen beachtet hätte, statt sich die Ohren zuzuhalten.
    In den meisten Häusern der langen, geraden Straße brannte noch Licht, durch manche der erleuchteten Fenster erkannte Freddy geschwungene Schrankgiebel, die oberen Reihen eines Bücherregals, Lampenschirme, Hochbetten oder Poster an der Wand. Der Abwechslung wegen bog er in eine Seitenstraße ein, folgte einer Brücke über die Bahngleise, und gelangte in eine dunklere Gegend; große Bäume, die nächtliche Schwärze einer Sportanlage, ruhige Wohnstraßen und wieder Fenster mit Blick auf behagliche Normalität. Er stellte sich vor, was geschehen wäre, wenn er in jenen Sekunden gebrüllt hätte: »Licht an, da ist was!« Was für einen Ärger hätte das gegeben, er hätte sich lächerlich gemacht! Der Mörder dagegen hätte ein harmloses Gesicht gezogen, das Messer unter der Jacke verborgen und den Mord auf einen anderen Tag verschoben.
    Nach dieser Überlegung ging es Freddy besser. Er hatte die Beueler St.-Josef-Kirche und die Klinik erreicht, in der sein Vater am Knie operiert worden war, ging weiter in Richtung Rhein und stieg die Stufen zur Kennedybrücke hinauf. Eisig blies ihm der Wind entgegen.
    Für eine Wanderung durch die Novembernacht war Freddy nicht richtig angezogen. Die Jacke war zu dünn, sein Schal hing zu Hause am Haken. Obwohl er fror, blieb er in der Mitte der Brücke stehen, blickte auf das schwarze Wasser, das unterwegs zum Meer war, auf die leuchtenden Streifen, die das Licht der Laternen auf die dahinziehenden Wellen malte, und ließ den Blick weiter schweifen zum Bonner Ufer mit dem hellsilbrigen Klotz des Opernhauses im Vordergrund und den Türmen im Dunkel dahinter. Nicht schlecht. Er hatte immer weitab vom Rhein am Stadtrand gelebt. Die Ausstrahlung des breiten Stroms hatte er vergessen, ebenso seine bewegte Geschichte: Bonn war römische Garnisonsstadt, Residenz der Kölner Erzbischöfe und Bundeshauptstadt gewesen, und immer hatte der Rhein dabei eine Rolle gespielt, als Grenzfluss und Verkehrsader. Freddys Eltern hatten, als sie von Hannover übergesiedelt waren, nicht weit vom Rhein gewohnt, aber im ersten schwülen Sommer meinte seine Mutter, in dieser Stadt nicht durchatmen zu können. So zogen sie in das höher gelegene Röttgen am Rand des Kottenforstes, dem großen Waldgebiet, das nicht weniger zu Bonn gehörte als der Rhein.
    Freddy blickte einem Ast nach, den die Strömung rasch vorantrieb. Hier über dem Rhein hatte er gestanden, nachdem er sein Staatsexamen vergeigt hatte, und Jahre später, als sein Vater gestorben war. Noch zwei, drei Kölsch in einer der Altstadtkneipen, und er wäre auch jetzt wieder halbwegs in Ordnung.
    Helles Lachen, gefolgt von tiefen männlichen Stimmen, schreckte Freddy auf. Zwei junge Männer und ein blondes Mädchen rückten heran, lachend, schwatzend, mit Bierflaschen in der Hand, hinter ihnen weitere Gestalten. Freddy drückte sich ans Geländer. Die jungen Leute schienen ihn kaum wahrzunehmen. Die wehenden langen Haare des schmalen, dunkel gekleideten Jungen links außen streiften Freddys Schläfe. Er erschrak – der Spuk im Kopf ging wieder los. Die drei hatte er heute Abend im Saal gesehen. Die Jungen hatten zwei, drei Meter von ihm entfernt gestanden, und das helle Haar des Mädchens hatte er weiter vorne leuchten gesehen. Vielleicht waren sie unterwegs zu einer Party auf der anderen Rheinseite. Sie sind jung, sagte sich Freddy, sie machen einfach weiter wie bisher. Was vorhin war, ist für sie aus und vorbei.
    Und doch klickte da etwas in seinem Kopf. Der links außen, der aussah wie Mick Jagger in

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