Kottenforst
Freundin zu erfahren. Das sollte sie jedenfalls nachholen. Jetzt musste sie erst mal aufräumen, statt dazustehen und zu grübeln. Ihr war nicht entgangen, dass Frau Fischmanns Augen nachdenklich über die Schuhlandschaft auf dem Boden geschweift waren. Mit solchen Peinlichkeiten musste Schluss sein. Außerdem brauchte sie Platz für die Theatersachen, die Freddy und Frau Fischmann bald bringen würden.
So schwierig, wie Pilar gedacht hatte, war das Aufräumen nicht – im Gegenteil: Mit Richys langem Stockschirm ließ sich ohne Anstrengung jedes Teil vom Boden angeln und an gewünschter Stelle absetzen, mal mit der Spitze, mal mit der Krücke. Bald war alles an seinem Platz.
Als Pilar den Schirm zurück in den Ständer stellte, blieb ihr Blick am Zeitungsstapel auf der Kommode hängen. Zuoberst lag das Anzeigenblatt. »Schloss kapott? Keybord macht es flott!«, las sie in einem umrahmten Kästchen. Die Telefonnummer stand in großen Ziffern darunter.
Eine Viertelstunde später sah Pilar einen mausgrauen Kastenwagen vorfahren. Ein grauhaariger Mann in einem langärmeligen grauen Kittel stieg aus und kam aufs Haus zu.
»Firma Keyboard«, sagte der Mann, als Pilar die Tür öffnete.
»Sie sind das?« Pilar wunderte sich. »Ich sehe oft den Wagen mit dem aufgemalten Schlüssel-Logo. Aber Ihrer hat das nicht.«
Er lächelte müde. Sein faltiges Gesicht erinnerte an einen greisen Boxerhund. Ihr war bekannt, dass der Inhaber des Schlüsseldienstes Keyboard ein alter Röttgener war, Trainer der Fußballjugend und Mitglied im Karnevalsverein, aber begegnet war sie ihm noch nie.
»Ohne datt Firmenwäjelche erkennen die Leute mich net«, erklärte der Mann und stellte seinen Metallkoffer auf die Schwelle. Bei ihm klang die bönnsche Satzmelodie traurig wie ein Lied zur Fastenzeit. »In den ist jestern einer kanonevoll erennjedonnert, watt wollen Se machen. Der da«, er deutete zur Straße, »ist jeliehen.«
Während er im kalten Durchgang an der offenen Tür werkelte, redete er unentwegt weiter, ohne dass sein Arbeitstempo beeinträchtigt schien. Pilar erfuhr seine Meinung zur aktuellen Politik – alles Blötschköppe –, dass er seinen Urlaub seit dreißig Jahren in der Eifel verbrachte – Watt soll ich in Spanien? – und sich in dieser Session der Wunsch seiner Enkelin erfüllt hatte, Karnevalsprinzessin von Röttschen zu werden. Nach kurzer Zeit war er fertig und drehte probehalber den neuen Schlüssel im neuen Schloss.
»Jetzt kann Ihnen nix mehr passieren.« Er überreichte ihr vier glänzende Schlüssel und grinste schief. »Aber net unter die Fußmatte lejen!«
Pilar sah dem grauen Wagen vom Küchenfenster aus nach. War es nicht schon vorgekommen, dass so ein Mann ein Duplikat des Schlüssels an einen Verbrecher weitergab? War er womöglich selbst einer, war ein grauer Kittel nicht das perfekte Kleidungsstück für einen Mörder? Sie lachte laut auf, aber es klang wie ein Schrei.
DAS SCHWARZ-ROTE BUCH
Liebes Tagebuch – ey, wie das klingt, das geht ja gar nicht. Aber wie soll ich sonst anfangen? Du bist ein echt cooles Buch mit diesem schwarz-roten Deckel. Ich hab nur nie gewusst, was ich mit dir machen soll. Schreib einfach ein paar schöne Geheimnisse hinein, hat Omi gesagt.
Jetzt hab ich welche. Ich meine Geheimnisse. Aber schön ist was anderes. Und so einfach ist das nicht. Ich hab dich schon hundertmal aus dem Schrank geholt und immer gleich gedacht, besser nicht. Nachher liest das noch einer. Aber jetzt finde ich, dass es sein muss. Ich schieb dich dann unter die Wollpullover ganz hinten, da guckt keiner hin.
Also seine SMS , damit ging es los.
An sich war das schon okay, dass ich es nicht abgeblockt hab. Das muss man sich mal vorstellen, wenn alle Nein sagen und man braucht schnell Werkzeug für irgendein Auto, Motorrad oder Fahrrad. Was genau, weiß ich nicht mehr, wir waren ja alle halb krank vor Lampenfieber, wie jedes Mal, wenn es losgeht. Ich hatte aber keinen Bock auf Komplikationen und hab geantwortet, dass es nicht geht.
Die Kiste von eurer Chefin, hat er gesimst, da ist doch alles drin.
An Pilars Zeug darf keiner ran, hab ich geschrieben.
Merkt ja keiner, bring das Ding im Dunkeln, leise, ohne Schuhe.
Wenn es dunkel ist, geht es los!
Zieh die Stecker, dann geht nix los, meinte er, ist doch witzig, wenn alle im Dunkeln sitzen und warten.
Weiß nicht, hab ich geschrieben, weil mir einer über die Schulter geguckt hat. Obwohl man nicht sehen konnte, für wen die SMS war, weil er
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