Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
wissen wohl gar nicht, wie stark Sie sein können.«
»Wo ist Dahl?«
Liskas Kopf fuhr zu dem Deputy herum, der die Frage gestellt hatte. Aber der hatte sich schon in Bewegung gesetzt und lief auf die Trage zu, die ein Stück weiter unten im Flur stand.
»Dahl?«, fragte sie und rannte mit rasendem Herzen hinterher.
Einer der anderen Deputys flitzte mit gezogener Waffe an ihr vorbei. Hinter sich hörte sie, wie jemand über Sprechfunk Verstärkung anforderte.
»Dahl?«, wiederholte sie, ihre Stimme nahezu hysterisch. »Karl Dahl?«
Der Deputy erreichte die Trage und begann zu fluchen. Sie war leer, verlassen, das weiße Laken zerknittert und blutbefleckt, wo der Kopf des Verletzten gelegen war. »Scheiße! Verdammte Scheiße! Er ist weg!«
9
Seit den Morden hatte jeder das Haus der Familie Haas im Norden von Minneapolis gemieden. Seit mehr als einem Jahr stand ein Schild im Garten, dass das Haus zu verkaufen sei. Aber es gab keine Kaufinteressenten; niemand wollte ein Haus kaufen, in dem eine Frau und zwei Kinder gequält und umgebracht worden waren.
Wayne Haas war beileibe kein vermögender Mann. Er arbeitete in einer Fleischfabrik, wo er Laster belud und die geschlachteten Tiere aufhängte. Er konnte anständig von seinem Lohn leben, aber er konnte es sich nicht leisten, ein neues Haus zu kaufen, bevor er dasjenige, das er besaß, verkauft hatte. Und wie gesagt: Niemand wollte das Haus, das er besaß.
Kovac und Liska bogen in die rissige betonierte Einfahrt ein, die zu einer frei stehenden Garage führte. Aus einem der vorderen Fenster des ansonsten dunklen Hauses drang ein flackernder blauer Lichtschein und zeigte, dass jemand fernsah. Trotzdem machte das Haus einen gespenstischen, verlassenen Eindruck. Der Rasen davor war ungepflegt, von Unkraut überwuchert, verdorrt. Vor dem Haus hatte einmal eine große Eiche gestanden, aber der Tornado, der an jenem schicksalhaften Sommertag darüber hinweggefegt war, hatte sie entwurzelt und das Haus entblößt, ungeschützt zurückgelassen. Ein Foto von dem Anblick, den das Grundstück damals bot, hatte am nächsten Tag eine halbe Zeitungsseite geziert.
»Ich könnte in diesem Haus nicht leben«, sagte Liska. »Ich möchte nicht einmal hineingehen.«
»Stimmt, ich würde auch eher in den Müllcontainer hinter einem Fischmarkt ziehen, als hier zu wohnen«, sagte Kovac.
Er war eigentlich nicht abergläubisch, aber bei Mordschauplätzen machte er eine Ausnahme.
In den mehr als zwanzig Jahren, die er nun bei der Polizei war, hatte er sich nie an den Geruch des Todes gewöhnen können. Man erkannte ihn sofort. Er hing über dem Tatort, so undurchdringlich und schwer, dass man meinte, ihn greifen zu können. Und auch wenn er wusste, dass sich der Geruch – schon bald nachdem die Leichen weggeschafft worden waren und die Reinigungsmannschaft einmal durchgegangen war – verzog, glaubte er, dass sich die Erinnerung daran niemals verflüchtigte und dass sich der durchdringende Geruch jedes Mal, wenn er dorthin zurückkehrte, in seinem Kopf ausbreitete und Übelkeit in ihm aufsteigen ließ.
Kovacs zweite Frau hatte ihm verboten, ihr Haus in demselben Anzug zu betreten, den er an einem Tatort getragen hatte. Seine »Leichenwäsche« hatte sie gesagt. Er musste sich in der Garage ausziehen und die Sachen dort lassen, dann in der Unterwäsche durch das Haus ins Bad gehen. Statt die Anzüge anschließend in die Reinigung zu bringen oder in den Müll zu werfen, packte sie sie in einen Karton und trug sie zur Altkleidersammelstelle. Als ob es die Armen von Minneapolis nicht schon schwer genug gehabt hätten.
Nachdem auf diesem Weg drei seiner Anzüge verschwunden waren, war er klüger geworden. Er deponierte Ersatzkleidung in seinem Spind und freundete sich mit dem Betreiber der Reinigung um die Ecke an.
Liska seufzte. »Komm, bringen wir's hinter uns, damit ich nach Hause komme und die ganze Nacht mit schlechtem Gewissen wach liegen kann, weil ich die beiden mit Fragen quälen musste.«
Wayne Haas öffnete die Haustür und sah aus, als würde er am liebsten jemanden zusammenschlagen. Er war ein grobknochiger Mann mit riesigen Händen und breiten Schultern, die er durch das Herumschleppen von Schweine- und Rinderhälften bekommen hatte. Stress, Trauer und Wut hatte tiefe Furchen in seinem geröteten Gesicht hinterlassen, so dass es wie aus Sandstein gemeißelt aussah.
»Was seid ihr eigentlich für ein Pennerverein?«, fragte er, nachdem er einen Blick auf die
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