Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
aus den Fünfzigern entsprungen.«
Sie stand auf und streckte sich, dabei rutschte ihr Pullover nach oben und legte die Glock Kaliber 9 mm frei, die sie in einem Gürtelholster trug. »Ich mach Schluss für heute, Kojak. Wir sehen uns morgen früh.«
»Es ist schon morgen früh.«
»Sag nichts. Ich bin schon weg.«
Kovac trieb sich noch einige Zeit im Büro herum, nachdem sie gegangen war. Zu Beginn eines Falles wurde er immer von Ruhelosigkeit gepackt. Am liebsten hätte er rund um die Uhr gearbeitet. Um reinzukommen. Um es hinter sich zu bringen.
Die Ermittler im Morddezernat der Polizei von Minneapolis hatten ungefähr drei Tage für einen Fall, bis der nächste Mord oder Totschlag gemeldet wurde, dann wanderte er erst einmal auf den Stapel anderer unerledigter Fälle. Vielleicht war Kovac aber auch so, weil es keinen Grund für ihn gab, anders zu sein. Seine Arbeit war sein Leben. Zu Hause wartete niemand auf ihn.
Er zog seine Jacke an und verließ das Gebäude, um einen Moment auf dem Absatz der breiten Treppe zu verharren, die zum Eingang des riesigen Steinkastens in der Farbe von roher Leber führte. Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angezündet, aber er ließ es bleiben. Die Zigarette auf der Veranda der Familie Haas hatte er nur des Effekts wegen geraucht.
In diesem Teil von Downtown lagen die Straßen zu so später Stunde praktisch verwaist da. Der Freitagnachttrubel fand ein paar Straßen weiter statt, wo sich Bars und Diskotheken um das Target Center scharten, Heimat der Timberwolves aus der Basketballliga. Nachtleben. Auch so etwas gab es.
Kovac ging zu dem Parkhaus, wo er sein Auto jeden Tag abstellte. Es war nach einem Polizisten benannt worden, der Ende der achtziger Jahre nur deswegen, weil er eine Uniform trug, erschossen worden war. Der arme Mann hatte in einer Pizzeria gesessen und nichts getan, außer vielleicht gerade Pläne für die Zeit nach seiner Pensionierung zu machen, als irgendein Gangmitglied eine Waffe zog und ihm vor einem Dutzend Zeugen in den Kopf schoss.
Der Mann hatte Tag für Tag die potenziellen und tatsächlichen Gefahren, die sein Beruf mit sich brachte, auf sich genommen und es fast bis zur Pensionierung geschafft, nur um kurz nach Feierabend vor einer Pizza erschossen zu werden.
Niemand plante, Opfer zu werden.
Auch Marlene Haas war an jenem schicksalhaften Tag sicherlich nicht morgens aufgestanden und hatte darüber nachgedacht, welcher Albtraum nur wenige Stunden später in ihrem Heim wahr werden würde.
Carey Moore war auf dem Weg nach Hause gewesen, hatte an ihre kleine Tochter gedacht, vielleicht auch an den abwesenden Ehemann oder an die Lawine, die sie mit ihrer Entscheidung losgetreten hatte. Und zack, aus dem Nichts heraus, schlug irgendein Schwein sie nieder und prügelte sie halb tot.
Kovac runzelte die Stirn angesichts der Wendung, die seine Gedanken genommen hatten – die arme Carey Moore. Er wollte nicht an sie als einen ganz normalen Menschen mit Problemen, mit Gefühlen und Zielen denken. Aber als er aus dem Parkhaus auf die Straße fuhr, schlug er nicht seinen Nachhauseweg ein. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, in Richtung Lake of the Isles.
12
Carey lag halb wach im Bett und sehnte sich verzweifelt nach Schlaf, doch die Schmerzen hielten sie davon ab. Schon zu atmen tat wegen der gebrochenen Rippen weh. Ihr Kopf pochte und fühlte sich geschwollen an, so dass sie am liebsten ihre Schädeldecke geöffnet hätte, um den Druck zu vermindern. Sie war noch vollständig bekleidet, denn sie hatte Ankas Angebot, ihr beim Ausziehen des grauen Nadelstreifenanzugs zu helfen, abgelehnt, nicht etwas aus Scham, sondern weil ihr die geringste Bewegung Schwindel und Übelkeit verursachte. Die Hose war an den Knien aufgerissen. Eine Schulternaht war während des Kampfs aufgeplatzt, ein Knopf fehlte, und ein Ärmel war am Ellbogen zerfetzt.
Sie dachte nur daran, dass ihr Lieblingsanzug ruiniert war, dass sie ihn wegwerfen musste und wie wütend sie deswegen war, weil all das im Grunde unbedeutend war – jeden anderen Gedanken verbannte sie aus ihrem Kopf. Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass sie überfallen worden war, dass jemand möglicherweise vorgehabt hatte, sie umzubringen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutet hätte, ihre Tochter nie wieder zu sehen, ihren Vater an seinem Lebensabend alleinzulassen.
Dass sie ihren Mann nicht in die Liste derjenigen Menschen, die sie vermissen würde, aufgenommen hatte,
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