Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
die australische Grippe und kann beim besten Willen nicht aufstehen. Die Krankheit weckt in mir den Heimwehteufel oder, wie man bei uns sagt, das Untier, das für die Angst steht, fernab von den Blicken seiner Lieben zu sterben, allein, weit weg von der Mutter. »Wie sollte ich es fertigbringen, meiner Mutter zu sagen, dass ich Angst habe?«, fragt sich De André in einem seiner Lieder. Kommt denn die ewige Ruhe nicht einer Rückkehr in den mütterlichen Uterus gleich? Wie beklemmend da die Vorstellung ist, dass deine sterblichen Überreste im Exil begraben werden! Auuuuuuu …
Samstag, 26 . April, 2 . 14 Uhr
Eben hat mich mein finsterer Gast geweckt, derselbe Alptraum, der mich immer wieder heimsucht. Jetzt werde ich nicht mehr schlafen. Was ist eigentlich ein Alptraum? Ein wildgewordener Hund. Mein Großvater war ein einfacher Bauer, sein Dorf in den Bergen von Djurdjura hat er nie verlassen. Er sagte immer: »Wenn dich ein Hund beschnuppert, bleib ruhig stehen und sieh ihm in die Augen. Du wirst sehen, er macht dann einen Schritt rückwärts. Wenn du aber wegläufst, wird er dir hinterherrennen und dich beißen.« Ich laufe vor meinen Alpträumen nicht davon. Ich blicke ihnen ins Antlitz und erinnere mich an jedes Detail. Weil ich die Alpträume in meinem Klo verdauen und begraben kann, trete ich ihnen ohne Furcht entgegen. Hier der Alptraum in seiner ganzen Länge:
Ich sehe … sehe mich blutverschmiert durch den Geburtskanal wandern. Meine Eltern haben starkes Herzklopfen. Komm schon, Mama! Meine Mutter kämpft gegen die Wehen und kann ihren Kopf nur mit Mühe heben. Bevor sie meine Tränen trocknet und mir die ersten Küsse auf meine roten Wangen drückt, wirft sie einen sorgenvollen, ängstlichen Blick unter meinen Bauchnabel. Jetzt atmet sie tief ein. Gott und alle Heiligen haben ihr Flehen erhört:
»Dhakar! Dhakar! Dhakar 12 !«
»Yuuuuyuuuuuyuuuuuuuuuuuuuu …«
So empfange ich das Leben also mit Tränen und das Leben selbst empfängt mich mit den Zagharid 13 . Es ist völlig egal, ob der neugeborene Dhakar hübsch ist oder hässlich. Egal auch, ob er gesund ist oder krank. Es ist egal, ob der Säugling … egal … egal. Das Einzige, was zählt, ist, dass er ein Dhakar ist. Und das bedeutet, dass das, was am Ende zählt, nicht ich bin. Was wirklich zählt, ist mein Dhakar.
Ich sehe … sehe meinen Dhakar oder besser: den Dhakar meiner Familie bis zum Augenblick seiner Beschneidung wachsen. Ich werde mein Blut rinnen sehen und die Zagharid verfluchen, die meine Schluchzer übertönen werden. Ich werde noch einmal an die Zagharid meiner Geburt erinnert werden, wenn ich mein Blut wieder zu Boden tropfen sehe. Warum haben sie meinen Dhakar massakriert? Und das nennen sie Reinigungsfest! Sie alle singen, tanzen und freuen sich – und mir bleiben die Schmerzen, die Tränen und die Qualen. Was aber wirklich weh tut, ist die Tatsache, nicht gefragt worden zu sein. Wem gehört denn der Dhakar, ihnen oder mir? Ich werde sehen, wie der Dhakar wächst und im Verborgenen aktiv wird. Doch schon bald wird das rote Köpfchen per Vermählung Teil des öffentlichen Lebens. So heiratet mein Dhakar also – und bringt mich in ernste Schwierigkeiten. In der Hochzeitsnacht wird meine Abneigung gegen diejenigen, die mich hintergangen haben, noch größer werden.
Ich sehe … sehe mich allein vor der Mauer der Jungfräulichkeit. Die chinesische Mauer! Das Himalayagebirge! Wie traurig es ist, so viele Jahre verloren zu haben! Man hat mir gesagt, dass Ehebruch mit hundert Hieben bestraft wird. Sie haben mit allen Waffen auf mich eingehauen: mit Gott, den Propheten, den Heiligen, der Religion, der Tradition, dem Wohlverhalten, dem Was-die-Leute-sagen, mit Aids. Und jetzt steigen wir also wie zwei Boxkämpfer bei ihrem ersten Match in den Ring. Sie hat Angst und ich auch. Die Ratschläge und Empfehlungen werden wir nicht mitnehmen in unser Schlafzimmer. Aber sie ist noch ängstlicher als ich. Ich trinke mir mit einem oder zwei Gläschen Mut an und rauche ein paar Zigaretten. Was soll ich zu ihr sagen? Nichts werde ich sagen. Meine Worte würden sie ermutigen und mich schwächen. Opfer oder Peiniger, entweder oder, ich habe keine andere Wahl. Sie blickt nur zu Boden. Ihre Angst ist größer als meine. Soll ich sie küssen? Streicheln? Wieso bin ich bloß so unsicher? Alle warten vor der Tür. Die Münder der Frauen laufen über vor lauter Zagharid. Verfluchte Zagharid! Ich muss in diese Mauer eindringen, keine Frage. Er
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