Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
dass er anrief, um sich an ihrer mütterlich lauernden Brust auszuweinen.
Nach Noahs Unfall hatte sie offensichtlich gedacht, dass es endlich so weit wäre, und Sebastian nun Grund genug hätte, sich von ihm zu trennen. Natürlich hatte sie sich vehement
dagegen ausgesprochen, dass Sebastian den Großteil seiner Pflege übernehmen wollte. Sie hatte gemeint, dass es einem jungen Mann am Startpunkt seiner Karriere nicht zuzumuten wäre,
für
jemanden wie Noah
verantwortlich zu sein – dabei hatte sie nie erklärt, ob sie Noah, den Sozialfall meinte, Noah, den potenziellen Ansteckungsherd für
Sexualkrankheiten jeglichen Schweregrads oder nur Noah, den Krüppel. Sie hatte ihn sogar in seinem Krankenzimmer aufgesucht und ihn gebeten, Sebastian
das
nicht aufzubürden,
hatte ihn mit seinen Gefühlen für ihren Sohn zu erpressen versucht, wovon dieser bis heute nichts wusste.
Zum Teil hatte ihre Taktik funktioniert. Damals hatte er mit dem Drucksensor in seinem Kopfkissen nach der Schwester geklingelt, um seine Schwiegermutter aus seinem Zimmer entfernen zu lassen.
Mit der Zeit hatten sich aber tatsächlich Schuldgefühle eingeschlichen, die Noah nicht ignorieren konnte.
Dafür, dass jede Nacht um halb drei der Wecker klingelte, weil Noahs Blase auf einen Vier-Stunden-Rhythmus trainiert war und er nicht die ganze Nacht in einer Position liegen durfte.
Dafür, dass Sebastian jeden Morgen drei Stunden vor Dienstbeginn aufstand, um zwei Männer für den Tag fertigzumachen. Dafür, dass er noch im Bett lag, um sich von den
nächtlichen Strapazen zu erholen und herauszufinden wie hoch seine Dosis an Medikamenten gegen seine Nervenschmerzen an jedem neuen Morgen zu sein hatte, während Sebastian schon das
Frühstück vorbereitete.
Meist noch vor Sonnenaufgang brachten sie den unangenehmsten Teil des Tages im Bad hinter sich. Zähneputzen und Rasieren erfolgte selbstständig, aber trotzdem fast synchron mit
Sebastian, jeder vor seinem eigenen Waschbecken. Danach duschten sie gemeinsam, um Zeit zu sparen.
Während Sebastian sich anzog, suchte er Noahs Haut nach geröteten Stellen ab, hakte die Punkte Hautpflege, Anziehen und eine halbe Stunde Krankengymnastik ab. Wenn er zur
wöchentlichen Physiotherapie abgeholt wurde, erledigte Sebastian die Haushaltsarbeiten, die Noah nicht verrichten konnte, und hastete dann zum Dienst – so war es jedenfalls
abgesprochen.
Noah übernahm das Kochen einfacher Gerichte, war für ihre Wäsche verantwortlich, ebenso wie für das Ein- und Ausräumen der Spülmaschine und er hielt die
Trittflächen der Fußböden sauber. Dennoch stritten sie oft darüber, dass Sebastian ihm diese Arbeiten vor seinem Dienst vorwegnahm.
Er wollte seinen Beitrag zu ihrem Zusammenleben leisten, da er nichts zur Haushaltskasse beisteuern und Sebastian helfen konnte, den Kredit für ihr Haus und die Umbaumaßnahmen
abzubezahlen. Sebastian aber wollte den Haushalt nicht auf Noah abschieben, nur weil er nicht mehr arbeiten konnte, zumal er wusste, dass sie beide im gleichen Maß ungern putzten. Das
Argument, dass Noah sich nutzlos vorkam, weil er ihm das Gefühl gab, nicht einmal in der Lage zu sein, das Haus zufriedenstellend in Ordnung zu halten,
wollte
Sebastian nicht
verstehen. Er selbst handelte aus seinem eigenen großen Schuldgefühl heraus, das aus der Tatsache herrührte, dass er nach wie vor bei der Polizei tätig war, obwohl es immer und
von klein auf Noahs großer Wunsch gewesen war, Polizist zu werden. Sebastian wollte weiterhin nicht verstehen, warum es Noah verletzte, wenn er sagte, dass es idiotisch sei, ihn vierzig
Minuten Arbeit und große Mühe auf eine Tätigkeit verschwenden zu lassen, die Sebastian mit wenigen Handgriffen in zehn Minuten erledigen konnte.
Die Liste ihrer Probleme, für welche sich Noah zumeist verantwortlich fühlte, wollte kein Ende nehmen, aber Sebastians Familie blieb ihr größter Konfliktpunkt.
Er hatte vom ersten Moment an das Gefühl gehabt, in ein Konkurrenzverhältnis zu Sebastians Familie getreten zu sein und egal, was sie auch versucht hatten, Noah war nie ein Teil dieser
Familie geworden.
Sebastians Vater hatte keine rechte Meinung über ihn, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Herablassung. Mit den Geschwistern seines Mannes kam Noah einigermaßen gut aus,
obwohl sie ihn zu keiner Minute vergessen ließen, dass er aus
sozial benachteiligten Verhältnissen
kam; nicht aus Böswillen, sondern aus mangelndem Feingefühl. Seine
Akzeptanz
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