Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
seine Stirn in Falten gelegt.
»Werden wir gleich wissen.« Sebastian betrachtete die Anzeige halb triumphierend, halb sorgenvoll. »Achtunddreißig sieben.«
»Achtunddreißig sieben ist kein Fieber.«
»Achtunddreißig sieben ist Grund genug, morgen schon zum Arzt zu fahren.«
Noah sah ihn an. »Sebastian ...«
»Ich weiß.« Die Hand legte sich wieder auf seine Stirn, glitt zu seiner Wange. »Ich würd’s uns doch auch gern ersparen, aber je eher wir gehen, desto
glimpflicher wird’s vielleicht.«
Noah sah ihn nur an, und während Sebastian ihn abhusten ließ, ihn danach flach auf die Seite lagerte, dachte er nach über die Bedeutungen des Wörtchens
wir
.
Als Sebastian wieder Richtung Küche verschwunden war, heftete sich Noahs Blick auf die Bilder aus ihrer gemeinsamen Zeit.
Das mittlere Regal war für Fotos von ihnen beiden vorbehalten, auch wenn Sebastian erst nach dem Unfall angefangen hatte, die wichtigsten Momente ihres Zusammenseins festhalten zu lassen
und darauf bestand, sämtliche ihrer Bilder auf dem Regal stehen zu haben. Noahs Augen glitten über die Höhepunkte ihrer Beziehung, angefangen beim Tiefpunkt seines Lebens:
Sebastian und Noah, in Noahs Stationszimmer beim ersten Transferversuch mit Rutschbrett, Noah verunsichert und freudig zugleich, Sebastian den Erklärungen des Pflegers folgend, seine
Hände um Noahs Hüften. Sebastian und Noah Monate später, in der Reha, von Sitzbalanceübungen pausierend, erschöpft, Sebastian hinter Noah auf dem Physiotisch, ihn mit Armen
umschlingend, stolz, Noah gegen Sebastians Brust gelehnt, rotwangig, lächelnd. Sebastian und Noah im Spanien-Urlaub, mit albernen Strohhüten, krebsrot, Sebastian gegenüber Noah auf
einer Mauer der Strandpromenade sitzend, seine nackten, sandigen Füße neben Noahs Hüften auf dessen Sitz gestellt, sich ein Eis teilend. Sebastian und Noah im Club, vor der Sling,
Sebastian lässig auf Noahs Armlehne stützend, ein Arm besitzmarkierend um Noahs Schultern gelegt. Sebastian und Noah auf Damians Geburtstagsfeier, Sebastian in der Hocke neben Noah,
Händchen haltend und Partytröten tutend. Sebastian und Noah bei einer Grillparty, ausgelassen, verliebt, Sebastian auf Noahs Schoß, dessen Wange küssend. Sebastian und Noah im
Krankenhaus, Sebastian in Uniform neben Noahs Beatmungsgerät sitzend, besorgt, aus Noahs Lieblingsbuch vorlesend, seine Hand auf Noahs Stirn. Sebastian und Noah auf einer Hochzeit, für
den Fotografen vor einem Torbogen posierend, Sebastian aufrecht hinter Noah, stehend, seine Hand auf Noahs Rückenlehne liegend, für die Kamera lächelnd. Er hatte weder für Noah
gelächelt, noch ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Sebastian, der vom Moment der Diagnose an immer darauf bedacht war, außerhalb einer Szene von Angesicht zu Angesicht mit Noah zu
sprechen, stand fernab des Dachbodens aufrecht hinter ihm, überragend, überlegen, Gesundheit und Macht demonstrierend, Noah kontrastierend, weil ein Fotograf gesagt hatte, es sähe so
besser aus.
5
»Ist alles okay?«
Sebastian stand am Ende der Couch bei seinen Füßen und schaute besorgt auf ihn herab. »Müde?«
Noah nickte nur.
»Ich bin auch ziemlich durch.«
Sebastians Hände fuhren über seinen Körper, drehten ihn auf den Rücken, drehten ihn auf die rechte Seite und zogen den Fußhocker zum anderen Ende der Couch, damit Noah
die nächsten zehn Minuten nicht die Rückenlehne des Sofas anstarren musste. Noah wünschte sich, auf die Sofalehne starren zu können, stattdessen fiel sein Blick genau auf seinen
Stuhl: das klassische Standard-Leichtgewicht-Modell, mit hoher Rückenlehne, Armstützen, rutschfesten Gummiüberzügen für seine Greifreifen, einzeln beweglichen
Fußstützen und Griffen zum Schieben.
Damian fuhr ein sportliches Modell, mit leicht schräg stehenden Reifen und niedriger Rückenlehne, aber Damian war auch erst ab dem achten Brustwirbel gelähmt und hatte
uneingeschränkte Armfunktion. Damian konnte sich die Schuhe selbst zubinden. Damian war selbstständig.
»Sie werden dich nicht anstarren. Und wenn doch, dann vermutlich eher, weil du der Lover von dem verschwuchtelten Polizisten-Bruder bist, nicht wegen des Stuhls.«
Mit diesem Satz hatte Sebastian seinen Unmut beschwichtigen wollen, dennoch war Noah nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, zu dieser Hochzeit zu fahren. Es waren sechsundneunzig Gäste
geladen. Davon kannte Noah gerade einmal sieben mehr als flüchtig. Sebastian hatte seine Unsicherheit
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