Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Notiz, bis ich mich aufraffe und das Büro verlasse. Auf dem Heimweg kreiselt der Name des Besitzers der
verdächtigen Containerladung durch mein Hirn. Daniel Romero. Ein seltsamer Name für einen Deutschen.
Nicht nur Daniel Romeros Name ist seltsam, wie ich am nächsten Tag feststellen muss. Es ist kurz nach zwölf, als ein Mann das Büro betritt und sich etwas verunsichert umsieht.
Normalerweise arbeiten hier fast 20 Menschen, doch nun sind nur ich und drei weitere Kollegen in dem großen Büro verstreut. María Paz lässt ihr Radio lauter als normal
dudeln, irgendein amerikanischer Song scheppert durch den Raum. Ich arbeite seit fast drei Jahren in diesem Büro und habe mich an den alltäglichen Lärm gewöhnt, der damit
einhergeht. Wir sitzen dicht an dicht, auf fast allen Tischen stapeln sich Ordner und Papiere, dazwischen finden gerade noch die Tastaturen und Telefone Platz. Heute ist es vergleichsweise ruhig,
nur ab und an läutet das Telefon. Ich bin der Eingangstür am nächsten, also kommt der Mann auf mich zu. Wie von einem
Gringo
nicht anders zu erwarten, ist er recht
groß. Schmutzigbraunes Haar fällt ihm ungeordnet in die Stirn.
„Guten Tag, Señor …“, sein Blick fällt auf das Namensschild, das wackelig an der Kante meines Tisches steht. „… Kaituoe.“ Er hat leichte
Schwierigkeiten, meinen Namen korrekt auszusprechen. „Ich bin Daniel Romero. Ich wollte mich nach einem Container erkundigen, der seit einigen Tagen …“, er zögert, und
ich ahne, was er sagen möchte. Die wenigsten Menschen sind begeistert, wenn ihre Sachen im Zoll hängen bleiben, zumal jeder Tag die Kosten für die Miete des Containers in die
Höhe treibt.
Er räuspert sich leise, dann fährt er fort: „… der seit einigen Tagen hier ist.“
Sein Akzent ist nicht so grausam, wie ich es von vielen Deutschen kenne; tatsächlich hat seine Stimme einen angenehmen Klang, wenngleich er sehr überlegt spricht. Das erste Mal,
seitdem er den Raum betreten hat, hebt er den Blick und sieht mir ins Gesicht. Der Ausdruck in seinen Augen passt nicht zu der Unsicherheit, die er ausstrahlt. Mein Herz setzt aus, ein feines
Prickeln streicht auf den Innenseiten meiner Unterarme entlang. Ich sehe ihn an, stumm. Es gibt einen einzigen bewussten Gedanken, der es schafft, meine Starre zu durchdringen:
Nicht
hier
.
Ich halte es fern von hier, fern von der Arbeit, fern von fast allen Menschen, die mir etwas bedeuten. Fern von meiner Familie, von meiner Mutter, die einen weiteren Grund hätte, sich
Sorgen zu machen und zur Beichte zu rennen. Jeden Tag geht sie in die Kirche, versucht dort wiederzufinden, was ein amerikanischer Tourist ihr nahm, als sie gerade 17 Jahre alt war. Ihre Familie
verstieß sie, weil sie sich von einem Kerl schwängern lassen hatte, von dem sie nichts weiter wusste als seinen Vornamen. Noch bevor sie überhaupt ahnte, dass sie mit mir schwanger
war, hatte mein Vater die Osterinseln bereits wieder verlassen. Meine Mutter tat es ihm bald gleich. Zu sehr litt sie darunter, ihre Würde verloren zu haben, ihren Stolz und den Respekt ihrer
Familie. Obwohl ich auf Rapa Nui zur Welt kam, habe ich keine einzige Erinnerung an die Insel, die meine Heimat sein sollte und deren polynesisches Erbe mir ins Gesicht geschrieben ist.
Ich kann nicht ändern, was meine Gene mir mitgegeben haben. In Chile wird man nach dem Gesicht beurteilt, nach der Farbe der Haut, der Augen und nach der Größe. Je
größer und europäischer, desto höher ist die soziale Klasse. Meine Mutter war ein gefallenes Mädchen, als sie mit mir auf dem Festland ankam, eine
Chula
. Leicht
zu haben in den Augen der
Quicos
, der reichen Spießbürger. Sie ist ihr Leben lang nicht aus der
Población
hinausgekommen, in der sie mit gerade mal 19 Jahren
eine Unterkunft fand. Wer ihr heute ins Gesicht sieht, wird keine Spuren ihrer einstigen Schönheit darin entdecken. Ihre unteren Schneidezähne fehlen, die Lippe scheint über der
Höhlung ins Innere zu fallen. Falten haben sich in ihre Haut gegraben, das Gewicht ihrer Kinder hat ihren Rücken gebeugt. Mit 45 Jahren wirkt sie wie eine alte Frau.
Seitdem ich ein kleiner Junge war, möchte ich entkommen. Ich will ihren traurigen Blicken entfliehen, der Beengtheit der hellblau gestrichenen Hütte, in der ich zusammen mit meinen
Geschwistern aufwuchs, dem bitteren Geschmack des Matetees, den es bereits am Morgen gab, weil er den Hunger unterdrückt. Ich habe hart für meine Flucht
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