Kraft des Bösen
faszinierenden jungen Schönheit mit den braunen Locken und langen Wimpern.
Ich kann mich an einen Spaziergang in Bad Ischl erinnern - bevor die schlechten Zeiten kamen, als Willi einen Scherz gemacht und meine Hand in seine genommen hatte, während ich lachte. Die Wirkung erfolgte unverzüglich und elektrisierend. Mein Gelächter war sofort verstummt. Wir beugten uns zueinander, seine wunderschönen blauen Augen so wissend, unsere Gesichter so nahe, daß sie die gegenseitige Hitze reflektierten. Aber wir küßten uns nicht. Da nicht. Damals gehörte Entsagung noch zum Ritual der Werbung, eine Art Fastenzeit vor dem Festschmaus, um den Appetit anzuregen. Die jungen Gecken heutzutage wissen von derlei Zurückhaltung und Feinheiten nichts mehr; für sie ist jeder Appetit etwas, das man unverzüglich befriedigen muß. Kein Wunder, daß für sie alle Lustbarkeiten das schale Aroma von lange abgestandenem Champagner haben, alle Eroberungen den hohlen Kern der Enttäuschung.
Heute glaube ich, daß Willi sich in jenem Sommer in mich verliebt hätte, wäre Ninas dreiste Verführung nicht gewesen. Nach diesem schrecklichen Tag in Bad Ischl weigerte ich mich über ein Jahr lang, unser >Wiener Spiel< zu spielen, weigerte mich sogar, mich im Sommer darauf in Europa mit ihnen zu treffen, und als ich den gesellschaftlichen Verkehr mit den beiden dann wieder aufnahm, war es eine neue und förmlichere Beziehung. Heute ist mir klar, daß Willis kurze Affäre mit Nina zu dem Zeitpunkt längst vorbei war. Ninas Flamme brannte hell, aber kurz.
Während unserer letzten Sommer in Wien wurde Willi förmlich verzehrt von seiner Leidenschaft für seine Partei und seinen Führer. Ich kann mich noch erinnern, er trug sein Braunhemd und die häßliche Armbinde zur Premiere von Das Lied der Erde, bei der Bruno Walter 1934 dirigierte. Das war der schrecklich heiße Sommer, den wir mit Willi in einem düsteren alten Haus an der Hohen Warte verbrachten, das er gemietet hatte, ganz in der Nähe, wo die eingebildete Alma Mahler wohnte. Dieses hochnäsige Weib lud uns niemals zu einer ihrer Partys ein, und wir revanchierten uns in gleicher Weise. Ich war mehr als einmal versucht, während des >Spiels< meine Aufmerksamkeit auf sie zu konzentrieren, aber wegen Willis albernem politischem Engagement spielten wir zu der Zeit nur sehr selten.
Jetzt, wo ich genesend in meinem eigenen Bett in meinem eigenen Hus in Charleston liege, rief ich mir ab und zu diese Tage und die Gedanken an Willi ins Gedächtnis zurück und fragte mich, ob sich die Dinge anders entwickelt hätten, wenn ich ihn früher mit dem leisesten Seufzer oder dem flüchtigsten Blick ermutigt und ihm geholfen hätte, Ninas destruktiven Avancen zu widerstehen.
Möglicherweise waren diese Gedanken unbewußte Vorbereitungen auf die Ereignisse, die bald folgen sollten. Im Verlauf meiner Krankheit hatte die Zeit immer weniger Bedeutung für mich, so daß es mir eventuell möglich war, mich so mühelos in den Korridoren der Ereignisse vorwärts wie rückwärts zu bewegen. Schwer zu sagen.
Im Mai hatte ich mich so sehr an die Aufmerksamkeit von Dr. Hartman und Schwester Oldsmith und die sanfte Therapie von Miß Sewell, an die Dienste von Howard, Nancy, Culley und dem Negerjungen gewöhnt, ebenso an die fortwährenden zärtlichen Zuwendungen des kleinen Justin, daß ich diesen behaglichen Status quo möglicherweise noch Monate oder Jahre beibehalten haben würde, wäre nicht eines warmen Frühlingsabends jemand zu mir gekommen und hätte an das schmiedeeiserne Eingangstor geklopft.
Es war die Botin, die ich schon einmal getroffen hatte. Die mit dem Namen Natalie.
Nina hatte sie geschickt.
53 . Kapitel
Charleston: Montag, 4. Mai 1981
Später war es für Natalie in der Erinnerung nur noch der Dreitausend-Meilen-Traum.
Es begann mit dem Wunder des Geländewagens.
Sie waren die ganze Nacht durch die Schwärze des Cleveland National Forest gefahren, hatten Umwege auf sich genommen, nachdem sie vor sich Lichter in der Kurve auf einer Hügelkuppe gesehen hatten, und sich auf Wegen, die man kaum mehr als Trampelpfade bezeichnen konnte, nach Süden vorgearbeitet. Dann hatten die Wege ganz aufgehört, und lediglich das Stück unbewachsener Talsohle, auf dem sie sich befanden, hatte ihnen ermöglicht, überhaupt weiterzufahren, wobei sie anfangs vier Meilen lang einem ausgetrockneten Bachbett gefolgt waren, in dem der Lieferwagen ruckelte und holperte und ihnen lediglich das Standlicht
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