Krampus: Roman (German Edition)
An seiner Nase hatte Ned eine rote Glühbirne befestigt. Zu Anfang hatte Jesse das noch lustig gefunden, aber da Rentier Rudolf dort nun schon seit Thanksgiving hing, wurde der Witz langsam ein bisschen schal. Hier und da erhaschte Jesse einen Blick auf einen trostlosen Weihnachtsbaum, der ein trostloses Wohnzimmer erhellte, aber die meisten Häuser in King’s Kastle blieben dunkel – entweder waren die Leute irgendwo, wo es fröhlicher zuging, oder Weihnachten kümmerte sie nicht. Jesse wusste ebenso gut wie jeder andere, dass es harte Zeiten in Boone County waren, dass nicht alle einen Grund zum Feiern hatten.
Das übergroße mobile Haus der alten Millie Boggs mit dem weißen Gartenzaun und den Plastiktopfpflanzen davor kam in Sicht, als Jesse über die Kuppe fuhr. Millie, die Besitzerin von King’s Kastle, hatte mal wieder ihre Plastik-Krippenfiguren zwischen Auffahrt und Mülltonne aufgebaut. Josef war umgefallen und Marias Glühbirne ausgegangen, aber das kleine Jesuskind leuchtete mit der Kraft von schätzungsweise zweihundert Watt von innen, was den Säugling geradezu radioaktiv erscheinen ließ. Jesse fuhr an der Krippe vorbei, den Hang hinab und hielt neben einem kleinen Wohnwagenanhänger zwischen ein paar Fichten.
Millie hatte Jesse den Anhänger »nur vorübergehend« vermietet, weil niemand, wie sie nachdrücklich betonte, allzu lange derart beengt leben sollte. Er hatte ihr versichert, dass er nur zwei oder drei Wochen bleiben werde, bis er und seine Frau Linda sich wieder zusammengerauft hatten.
Das war nun schon fast zwei Jahre her.
Er schaltete den Motor ab und starrte auf den Anhänger. »Frohe Weihnachten.« Dann schraubte er die Whiskeyflasche auf und nahm einen tiefen Schluck. Mit dem Jackenärmel wischte er sich den Mund ab und prostete seiner Behausung zu. »Darauf, wie egal mir alles ist.«
Eine einzige Lichterkette verlief entlang der Dachkante. Da er sich im vergangenen Jahr nicht die Mühe gemacht hatte, sie abzunehmen, musste er sie nur wieder anschließen, um an der Festzeit teilzuhaben. Nur waren dummerweise alle Glühbirnen durchgebrannt, mit Ausnahme eines einzigen roten Lichts genau über der Tür. Einladend ging es an und wieder aus, an und wieder aus. Jesse wollte nicht eintreten. Er wollte nicht auf seiner zerknautschten, blau gestreiften Matratze sitzen und die billige Holzvertäfelung anstarren. Irgendwie gelang es ihm immer, Gesichter in den Astlöchern und der Maserung zu entdecken – traurige Gesichter oder gequälte. Dort drinnen konnte er nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, dort konnte er die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass er Weihnachten einmal mehr allein verbrachte, und ein Mann, der Weihnachten allein verbringt, ist wirklich mutterseelenallein.
Deine Frau dürfte dagegen Gesellschaft haben, was?
»Hör auf.«
Wo ist sie, Jesse? Wo ist Linda?
»Hör auf.«
Sie ist bei ihm zu Hause. Es ist ein hübsches Haus. Mit einem hübschen Weihnachtsbaum. Ich wette, dass unter dem Baum viele Geschenke für sie liegen. Genauso wie für die kleine Abigail.
»Hör endlich auf«, flüsterte er. »Bitte, lass es einfach gut sein.«
Das Licht blinkte unbeirrt weiter und verspottete ihn und seine Gedanken.
Ich muss da nicht reingehen, dachte er. Ich kann auch in der Campingkabine schlafen. Es wäre nicht das erste Mal. Zu ebendiesem Zweck hatte er immer einen Schlafsack hinten im Auto liegen, vor allem für auswärtige Auftritte, weil die meisten Spelunken einem auf den Hund gekommenen Gitarristen nämlich nicht genug bezahlten, damit er sich davon ein Motel und den Sprit für die Heimfahrt leisten konnte. Er schaute auf den schneebedeckten Boden. »Zu kalt.« Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war früh, zumindest für seine Verhältnisse. Wenn er im Gockel spielte, kam er normalerweise nicht vor vier Uhr morgens nach Hause. Er war einfach noch nicht müde oder benebelt genug, um einzuschlafen, und er wusste, wenn er jetzt reinging, würde er bloß ewig die Gesichter im Holz anstarren.
Sid hatte den Gockel früh dichtgemacht – nicht etwa, weil Weihnachten war; am Weihnachtsabend machte Sid normalerweise gute Umsätze. Da draußen gab es eine Menge verlorener Seelen, die sich genau wie Jesse nicht ihren leeren Wohn- oder Schlafzimmern stellen wollten – jedenfalls nicht an diesem Tag.
Ich würde den Hurensohn, der sich diesen verdammten Feiertag hat einfallen lassen, gerne abknallen, dachte Jesse. Das wäre mal ein Grund zum Feiern für
Weitere Kostenlose Bücher