Krampus: Roman (German Edition)
die ganze Familie. Zumindest für die Leute, die eine Familie haben. Für so traurige Gestalten wie mich wäre es nur eine weitere Erinnerung daran, wie viel Dreck man im Leben fressen muss.
Lediglich fünf oder sechs elende alte Säcke hatten an jenem Abend ihren Weg in den Gockel gefunden, und die meisten von ihnen waren bloß für die Lokalrunde gekommen, die Sid jedes Jahr an Weihnachten ausgab. Jesse hatte seinen Verstärker zur Seite geschoben und Akustikgitarre gespielt. Er stimmte die üblichen Weihnachtslieder an, doch niemand kümmerte sich um ihn oder schien auch nur zuzuhören. Nicht an jenem Abend. Anscheinend war der Geist der vergangenen Weihnacht unter ihnen, und so standen die Leute bloß mit ihren Drinks da und starrten ins Leere, als wünschten sie sich an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Da niemand etwas bestellte, hatte Sid schließlich um kurz nach ein Uhr Feierabend gemacht.
Sid sagte zu Jesse, dass er an diesem Abend ordentlich Miese gemacht habe, und fragte, ob er anstelle des üblichen Zwanzigers auch eine angebrochene Flasche Whiskey als Bezahlung nehme. Jesse hatte sich auf das Geld verlassen. Er wollte seiner fünfjährigen Tochter Abigail ein Geschenk davon kaufen. Trotzdem nahm er den Alkohol. Jesse redete sich ein, dass er es für Sid tat, obwohl er ganz genau wusste, dass dem nicht so war.
Er bedachte die Flasche mit einem elenden Blick. »Eine einzige Sache hat sie sich von dir gewünscht. Eine Puppe. Eine von diesen neuen Teen-Tiger-Puppen. Eigentlich kein so komplizierter Wunsch. Nein, mein Herr … wirklich nicht.« Er hörte die Stimme seiner Frau im Kopf. »Warum musst du bloß immer solchen Mist bauen?« Er wusste keine Antwort. Warum muss ich bloß immer solchen Mist bauen?
Es ist noch nicht zu spät. Ich kann am Montag beim Pfandhaus vorbeigehen. Allerdings wusste er, dass er nichts mehr übrig hatte, was er hätte verpfänden können. Den Fernseher und die Stereoanlage, die guten Ersatzreifen und selbst den Ring, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, hatte er bereits verkauft. Er rieb sich über die Stoppeln am Kinn. Was besaß er noch? Er nahm die Gitarre aus der Gewehrhalterung und legte sie sich in den Schoß. Nein, das kann ich einfach nicht. Er strich über die Saiten. Warum nicht? Das Mistding bereitete ihm ohnehin bloß Kummer. Außerdem war ihm sonst nichts von Wert geblieben. Er warf einen Blick auf den Ehering an seinem Finger. Nun ja, fast nichts. Er legte die Gitarre auf den Boden und hielt den Ringfinger in die Höhe, sodass der goldene Reif in der Straßenbeleuchtung funkelte. Warum hob er ihn auf? Linda trug ihren weiß Gott schon lange nicht mehr. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, ihn zu verkaufen. Als könnte es ihnen irgendwie dabei helfen, wieder zusammenzukommen, wenn er den Ring behielt. Jesse legte die Stirn in Falten. »Ich lasse mir etwas einfallen. Irgendetwas.« Dabei wusste er, dass ihm das nicht gelingen würde. »Abigail, meine Kleine«, sagte er, »es tut mir leid.« Die Worte klangen hohl. Würde er das wirklich schon wieder zu ihr sagen? Wie oft konnte man diese Worte zu einem kleinen Mädchen sagen, bevor sie jeglichen Wert verloren?
Er nahm noch einen Schluck Whiskey, aber mit einem Mal schmeckte der Alkohol bitter. Er schraubte die Flasche zu und ließ sie in den Fußraum fallen. Dann schaute er der Glühbirne beim An- und Ausgehen zu, an und aus. Ich kann da nicht rein. Ich kann nicht noch eine Nacht in diesem Loch verbringen und daran denken, dass Linda bei ihm ist. An Abigail denken, meine eigene Tochter, die im Haus eines anderen wohnt. An das Geschenk, das ich ihr nicht besorgt habe … das ich ihr nicht besorgen kann.
»Ich bin es leid, mich die ganze Zeit mies zu fühlen.« Die Worte kamen ausdruckslos, wie tot aus seinem Mund, endgültig.
Jesse öffnete das Handschuhfach, wühlte zwischen den Tonbandkassetten, Pizza-Coupons, dem Fahrzeugschein und einer alten Tüte Trockenfleisch herum, bis seine Finger schließlich auf den kalten, harten Stahl einer kurzläufigen 38er trafen. Er hielt die Waffe in der Hand und sah zu, wie das Metall in dem blinkenden roten Licht aufblitzte. Ihr Gewicht hatte etwas Tröstliches, Verlässliches – wenigstens eine Sache, auf die er zählen konnte. Er vergewisserte sich, dass eine Kugel im Patronenlager war, und nahm den Lauf bedächtig zwischen die Zähne. Er achtete darauf, dass die Mündung nach oben zeigte, auf seinen Gaumen. Seine Tante Patsy hatte 1992 versucht, sich
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