Kratzer im Lack
sie einen Luftschutzwart, der sie in einen Kellereingang ziehen wollte, weggeschoben und ist dicht an den Häuserwänden entlang einfach weitergelaufen. Sie wollte nicht in einen fremden Keller gehen, sie wollte nach Hause zu Gerda.
Und dann ist sie an dem Juweliergeschäft vorbeigekommen und hat die Uhren im Schaufenster gesehen, billige Armbanduhren und Wecker, denn damals gab es schon lange keine goldenen Uhren mehr. Sie hat, ohne zu überlegen, einen Stein aufgehoben und das Fenster eingeschlagen. Ihre Bluse ist zerrissen und ihr Arm hat geblutet, aber sie hat die Tasche voller Uhren gehabt, als sie endlich zu Hause angekommen ist. Achtzehn Uhren. Und Ludwig ist damals schon in ihr gewachsen, aber sie hat das noch nicht gewusst.
Plündern wurde mit dem Tode bestraft, damals. Sie hat nie jemand davon erzählt, nur die Lena hat es gewusst. Und mit Lena zusammen ist sie Monate später mit den Uhren zum Hamstern gegangen, hat eine Uhr nach der anderen gegen Kartoffeln und Eier getauscht. Die Bauersfrauen waren gerührt von ihrem dicken Bauch. »Was Richtiges zu essen brauchen Sie«, haben sie gesagt. »Arme Frau, ein Kind in so schwerer Zeit.« Und sie haben ihr mehr für eine Uhr gegeben, als andere bekommen haben.
Frau Kronawitter kann nicht einschlafen. Sie legt sich auf den Rücken und faltet die Hände über dem Bauch. Ludwig. Sie hätte zu ihm halten müssen, hätte ihn verstehen müssen, hätte für ihn kämpfen müssen.
Sie hört wieder das Kratzen, sieht die Gestalt in das Haus huschen, meint, sie die Treppe hochrennen zu sehen, nicht mehr schleppend, nein, sie kennt den Schritt, die Angst, die einen vorwärts treibt.
Ich werde nichts sagen. Ich habe nichts gesehen. Ich weiß nicht, wer es war. Und außerdem geht es mich nichts an. Ich bin ja nur zufällig auf der Straße gewesen, ganz zufällig, weil der Wastl vor dem Schlafengehen noch mal rausmuss. Ich hätte auch fünf Minuten später um die Ecke kommen können, dann hätte ich nichts gesehen.
Und überhaupt, was hat sie schon gesehen? Es ist dunkel gewesen und ihre Augen sind nicht mehr die besten. Immer schlechter sind ihre Augen geworden in der letzten Zeit. Sie muss mal zum Augenarzt gehen. Eine Brille braucht sie, ja. Alle alten Leute brauchen Brillen. Das ist ganz normal.
Die Gestalt ist dünn gewesen und nicht sehr groß. Eigentlich gibt es nur einen im Haus, der so aussieht, aber was bedeutet das schon? Ihre Augen konnten ihr auch einen Streich gespielt haben. Das hört man oft, dass Augenzeugen sich geirrt haben. Sicher ist das so gewesen. Außerdem geht es sie nichts an. Und es ist nur ein Auto. Nur ein Auto.
9.
Herbert ist nass geschwitzt und zerschlagen, als seine Mutter die Tür öffnet. »Aufstehen. Und trödel nicht. Wir haben verschlafen.«
Herbert steht auf und zieht den Rollladen hoch. Wieder ein grauer, hässlicher Nebeltag. Er hört im Badezimmer den Vater husten und erschrickt. Wieso ist der noch nicht weg, denkt er. Ach so, sie haben verschlafen. Herbert zögert. Sein Traum ist noch so nah, dass er Angst davor hat, den Vater zu sehen.
Mit dem Messer ist der Vater auf ihn losgegangen im Traum.
Jetzt ist das Badezimmer leer, der Vater redet in der Küche.
Herbert geht hinüber und duscht so lange, bis seine Haut brennt und wehtut von dem kalten Wasser.
Die Leute haben ihn angestarrt, als er diese Straße entlanggegangen ist. Abschätzige und verächtliche Blicke haben sie ihm zugeworfen. Er hat die Hand um das Messer in seiner Hosentasche gelegt und hat versucht zu rennen.
Herbert trocknet sich sehr langsam ab. Er will einfach nicht in die Küche gehen und den Vater sehen.
Im Traum hat er plötzlich gemerkt, dass er nicht mehr rennen konnte. Das Messer ist schwerer und schwerer geworden. Die Leute sind näher gekommen, haben ihn eingekreist, wie eine Mauer haben sie um ihn herumgestanden. Verzweifelt hat er um sich geschaut, hat gehofft, irgendjemand zu erkennen. Aber da war niemand. Und auf einmal hat er gemerkt, dass es nicht das Messer war, das so groß und schwer geworden ist. Er hat nackt vor den Menschen gestanden und versucht, mit den Händen seinen Penis zu bedecken, das Ding, das so riesig geworden war und wie ein Zentnergewicht zwischen seinen Beinen hing.
»Herbert, was machst du denn so lang? Komm doch endlich, es ist gleich halb acht«, ruft die Mutter aus der Küche. Herbert zieht sich an.
Der Vater ist plötzlich da gewesen, im Traum. Du kannst doch nicht mit so einem Ding rumlaufen, hat er gesagt.
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