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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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sie, er braucht gar nicht hinzuschauen. Er weiß, dass sie jetzt schadenfroh grinsen.
    Dann sitzt er an seinem Platz, wühlt in der Schultasche nach dem zweiten Banjo, das er sonst erst in der Pause isst. Aber kaum spürt er den Schokoladen-Erdnuss-Geschmack, da geht schon die Tür auf und der Lehrer kommt herein. Herbert würgt das Banjo hinunter.
    Am liebsten würde ich die Brille nicht aufsetzen, jetzt nicht, denkt er. Aber dann meinen die, ich hätte Angst. Außerdem sehe ich ohne Brille wirklich nicht, was an der Tafel steht. Er holt das verhasste Ding heraus und setzt es auf. Sofort werden die Umrisse deutlicher. Aber er kann sie nicht festhalten, die Umrisse, kann das Gesicht des Lehrers kaum erkennen. Alles verschwimmt vor seinen Augen, rutscht weg. Der Abstand zwischen ihm und dem, der da vorn steht, wird immer größer, es ist, als wenn man ein Fernglas umgedreht hält und Wasser über die Linse laufen lässt.
    Da merkt er, dass er weint, und jetzt kann er sich auf das Weinen konzentrieren: erst den Kopf abstützen, zur Fensterseite hin, damit keiner sein Gesicht sehen kann – »ein Schwächling ist er, mein Sohn, ein Waschlappen« –, dann die Brille abnehmen, in der Schultasche wühlen, den Kopf fast hineinstecken und dabei unauffällig die Tränen abwischen, umständlich die Brille putzen, mit einem Taschentuch, weil er das weiche, beigefarbene Tuch vom Optiker nicht findet, noch mal die Tränen abwischen, Brille wieder aufsetzen, ins Heft schauen.
    Jetzt ist es vorbei, jetzt hat er sich wieder in der Hand. Nach außen sieht man nichts, nicht das Zittern und nicht die Wut.

18.
    Frau Kronawitter macht sich eine Tasse Tee, Kamillentee, um den Magen zu beruhigen.
    Fast hat sie ihn vergessen gehabt. Sie hat gestern einfach nicht mehr an ihn gedacht. Warum soll sie sich auch über ein fremdes Kind den Kopf zerbrechen.
    Dann ist vorhin die Tür aufgegangen. »Zwei Banjos, bitte.«
    Er hat keine Brille aufgehabt. Er hat so ausgesehen, als wäre nichts. So wie immer eben, mager, spitz, aber ganz ruhig. Warum regt sie sich nur auf? Was geht sie dieses fremde Kind an?
    Süßlicher Kamillengeruch erfüllt den ganzen Laden.
    Es stimmt nicht. Ludwig hat es nicht schweigend hingenommen. Nicht die Schläge – »Ich hasse dich«, hat er geschrien – und nicht das Wegschicken.
    »Mama, bitte, lass das nicht zu. Bitte, lass mich hier. Er soll mich nicht wegschicken, Mama, ich bin doch kein Hund, den man einfach wegjagen kann.«
    Er hat sich an sie gehängt, gebettelt und gefleht in dieser Nacht, als der Polizist ihn zurückgebracht hat.
    »Ich tu so was nie wieder, Mama, nie wieder. Lass mich hier, bitte. Schick mich nicht zum Onkel.«
    Und sie hat ihn von sich geschoben, hart ist sie gewesen, hat ihn nicht an sich herankommen lassen, hat ihn weggeschoben, abgeschoben, seine klammernden Hände wieder und wieder von sich gelöst, bis er sich gefügt hat.
    »Der Papa will es so.«
    So ist es gewesen.
    Und Theo hat zu ihr gesagt: »Das hast du jetzt davon, du Flittchen.«
    So ist das gewesen. So und nicht anders.
    Danach erst ist sie so still geworden, still und hart. Sie hat geputzt, gewaschen, gekocht, hat eingekauft und die Betten gemacht und hat sich nachts, wenn er es wollte, gefühllos unter ihn gelegt.
    So ist es gewesen.
    Sie hat sich so an dieses Stillsein gewöhnt, dass sie es schließlich ganz normal gefunden hat, nichts zu sagen, über nichts zu reden, alles hinunterzuschlucken.
    »So bin ich eben«, hat sie zu Theo gesagt, wenn er sich darüber beklagt hat. »Das ist meine Natur.«
    Und als Ludwig nach Theos Tod zurückgekommen ist, sind es nur kümmerliche Versuche gewesen, die sie gemacht hat, unzulängliche Versuche, diesem Sohn wieder näher zu kommen. Aber da ist es schon zu spät gewesen. Sie hat nicht mehr reden können. Und der Ludwig auch nicht. Wie eine Wand haben die Worte, die sie nicht hat sagen können, zwischen ihnen gestanden.
    Ich habe Ludwig nie gefragt, warum er das gemacht hat, denkt sie. Ob das wirklich nur dumme Streiche waren, der schlechte Einfluss von dem Wiedemann Karl? Man redet heute so viel davon, dass es die Kinder aus kaputten Familien sind, die so werden. Aber wir waren doch keine kaputte Familie, nicht richtig kaputt. Wohnung, Essen, Kleider, das hat er doch alles gehabt. Und der Theo hat ihn nur einmal geschlagen. Da hat es ganz andere Väter gegeben. Wenn ich dich nur fragen könnte, Ludwig. Und dieser Junge, der Herbert, warum macht der so was? Einfach nur kaputtmachen.

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