Kratzer im Lack
ihr, sieht, wie sie eine Tür öffnet, zweiter Klasse, Raucher. Ihr Rock spannt beim Einsteigen.
Herbert setzt sich auf eine Bank. Gleich kommt sie wieder heraus, denkt er. Sie wird auf mich zukommen, sich neben mich setzen und meine Hand nehmen. Ihr Duft wird wieder da sein und ihre Augen. Aber sie wird mich anders anschauen als vorhin auf der Rolltreppe. Ganz lieb und freundlich wird sie sein. Für sie werde ich richtig sein. Ich werde meinen Kopf an ihre Jacke legen und wir werden einfach dasitzen, nur so.
Der Schaffner hebt den Arm. »Bitte zurücktreten. Türen schließen.«
Dann setzt sich der Zug in Bewegung, die Eisenschlange rollt aus dem blassen Licht der Halle in den graublauen Himmel. Herbert ist enttäuscht und traurig. Natürlich hat er gewusst, dass sie nicht kommen wird. Aber es wäre so schön gewesen.
Er geht hinaus auf den Bahnhofsplatz, schaut in das helle Licht und weiß nichts anzufangen damit. Ein Fahrrad steht an der Hauswand, vor einer Wechselbank, direkt unter dem Schild: Fahrräder anlehnen verboten. Herbert stellt sich hinter das Rad. Er kann in die Bank hineinschauen, sieht die Leute vor den Schaltern warten und zieht sein Messer. Er steht so dicht hinter dem Rad, dass niemand sehen kann, wie er die Spitze der Klinge in den Fahrradmantel bohrt. Er kann es auch nicht sehen, er traut sich nicht, den Kopf zu senken. Starr schaut er in die Schalterhalle, sieht, wie der blonde junge Mann an der Kasse die Hundertmarkscheine zählt, und hört das leise Zischen der austretenden Luft.
Er klappt das Messer wieder zusammen und schlendert weiter. Unauffällig, ein ziemlich kleiner Vierzehnjähriger mit einer großen, goldenen Brille auf der Nase. Er steckt die Hand mit dem Messer in die Tasche. Jetzt, endlich, ist er wieder ganz ruhig.
16.
Frau Kronawitter hat lange geschlafen, sehr lange. Sie ist so müde gewesen. Manchmal ist sie zwischendurch wach geworden, hat gehört, dass es noch nicht ruhig ist im Haus, und ist wieder eingeschlafen. Als sie das nächste Mal die Augen wieder aufmacht, ist Lena da, bringt ihr eine Tasse Tee und steckt ihr zwei Tabletten in den Mund. »Ich war gerade mit Wastl Gassi«, sagt sie.
Frau Kronawitter schläft wieder ein. Sie träumt von Theo und Ludwig, sieht sie Hand in Hand an einer Trambahnhaltestelle stehen und ihr über die Straße hinweg zuwinken. Als sie zurückwinken will, kommt die Trambahn und schiebt sich zwischen sie. Danach sind Theo und Ludwig weg.
Als sie aufwacht, wird es draußen schon dunkel. Sie steht auf und zieht sich an. Ein bisschen wacklig ist sie noch auf den Beinen, aber das können auch die Tabletten sein. Sie räumt ihre Wohnung auf, mit langsamen, bedächtigen Bewegungen. Es ist nicht viel zu tun, sie ist eine ordentliche Frau, hat schon immer alles sauber gehabt. So hat es Theo gewollt.
Im Wohnzimmer, auf dem Vertiko, stehen die gerahmten Fotografien. Theo ist ein stattlicher Mann gewesen. Und da ist ein Bild von Ludwig. Elf oder zwölf muss er gewesen sein. Einen neuen Fußball hat er in der Hand. Ein hübscher Junge. Blond wie Theo. Sie selbst ist dunkel gewesen, fast schwarz, bevor die grauen Fäden ihr Haar durchzogen und sie abgestempelt haben: eine alte Frau. Es hat ihr nichts ausgemacht, warum auch, so war sie, eine alte Frau. Sie hat nichts anderes mehr vom Leben erwartet als ein paar Jahre in Ruhe. Nach Theos Tod ist sie dann schnell weiß geworden.
Theo hat sich früher immer gefreut an ihren dunklen Haaren, an den im Sommer braun verbrannten Händen. Schwarzbraun ist die Haselnuss, hat er gesungen.
Gerda ist auch so. Nur Ludwig war blond. Wenn jemand gesagt hat: »Das Blonde, das hat er wohl von Ihnen«, ist Theos Gesicht bitter geworden und sie hat schnell wegschauen müssen.
Ihre Finger streichen über das glatte Glas und die schmalen, hölzernen Rahmen. Sie hätte die Fotos nicht gebraucht, sie erinnert sich auch so. Aber manchmal schieben sich die Fotos vor die Erinnerung. Von ihrer Mutter zum Beispiel weiß sie nicht mehr, wie sie als junge Frau ausgesehen hat. Nur das Fotogesicht kennt sie, aufgenommen, als Hannerl in die Schule gekommen ist, Hannerl neben einer freundlichen dunkelhaarigen Frau.
Frau Kronawitter stellt die Bilder zurück. Jahrelang hat das Foto von Theo ganz rechts auf dem Vertiko gestanden, das von Ludwig ganz links, dazwischen, umrahmt von den Nippes, Gerda. Jetzt ordnet Frau Kronawitter neu. In die Mitte kommt Theo, rechts von ihm, schräg nach vorn gestellt wie bei einem aufgeklappten
Weitere Kostenlose Bücher