Kratzer im Lack
Altarbild, Gerda. Gerda als Braut. Und links neben Theo, auch schräg nach vorn, Ludwig mit dem Fußball. Es sieht ganz anders aus als vorher. Sie wird sich daran gewöhnen müssen.
Um die Bilder herum gruppiert sie die Erinnerungsstücke. Ein Aschenbecher, Gruß aus Garmisch, den sie und Theo in ihrem ersten Urlaub gekauft haben. Gerda ist eine Woche lang im Laden gewesen. Eine Porzellantänzerin, auf einem Bein stehend, das andere hoch in die Luft gestreckt, himmelblaues Röckchen, himmelblaue Schuhe, der Oberkörper vorgeneigt, die Arme leicht angewinkelt unter dem zierlichen Gesicht. Theo hat diese Figur aus Frankreich mitgebracht, als er Fronturlaub hatte. Den ganzen Weg vom Westwall her hat er sie in seinem Gepäck gehabt, vorsichtig eingewickelt in ein raues Flanellhemd. »Ich habe die ganze Zeit Angst gehabt, sie könnte kaputtgehen, bevor ich zu Hause bin«, hat er gesagt und aufgepasst, ob sie sich auch richtig freut darüber. Und sie war im Grund nur froh, dass er da war, ihr Theo.
Da ist noch die Muschel, die sie von ihrer Mutter geerbt hat, mit der rosigen, perlmuttfarbenen Höhlung.
»Leg sie an dein Ohr, Hannerl, dann hörst du das Meer rauschen.« Hannerl hat die Muschel an ihr Ohr gedrückt, so fest, dass die Spuren danach zu sehen waren, und hat vom Meer geträumt.
Frau Kronawitter nimmt die Muschel an ihr Ohr. Sie hätte gern das Meer gesehen, aber dazu ist es nie gekommen. Die Zeiten waren nicht danach. Das Meer war zu weit weg. Früher hat man nicht einfach ein paar Wochen Urlaub genommen im Sommer. Früher ist man nicht einfach mit der Familie ans Meer gefahren.
»Wir können doch den Laden nicht zumachen«, hat Theo gesagt. »Das können wir uns nicht leisten. Die Miete geht weiter und die Rechnungen müssen bezahlt werden.«
Sie hat das Meer nicht gesehen, kaum etwas hat sie gesehen von den Dingen, von denen sie als Kind geträumt hat. Zur Kommunion hat sie ein Buch über Afrika bekommen. Danach hat sie Abenteuer erleben wollen, durch den Urwald ziehen, mit Kamelen durch die Wüste reiten. Fremde Menschen hat sie kennen lernen wollen, fremde Länder, am liebsten die ganze Welt.
Jetzt hat sie noch nicht mal das Meer gesehen. Sie wird sterben, ohne das Meer gesehen zu haben.
Ein Schlüssel wird in ihrer Wohnungstür umgedreht. Sie erschrickt. Vorsichtig stellt sie die Muschel an ihren Platz zurück.
Es ist Lena. Frau Kronawitter ist verlegen, so als hätte Lena sie bei etwas Verbotenem ertappt, bei etwas, das sich nicht gehört.
Lena kommt schnell auf Frau Kronawitter zu und legt den Arm um sie. »Aber Hannerl, du hättest doch liegen bleiben sollen. Ich habe extra den Hund mitgenommen, damit du deine Ruhe hast. Warum liegst du nicht im Bett?«
Frau Kronawitter hat Wastl nicht vermisst. Jetzt springt er an ihr hoch, überschlägt sich fast vor Freude. Etwas beschämt fährt sie ihm mit der Hand durch das struppig graue Fell.
»Mir geht es schon wieder ganz gut, wirklich. Ich habe einen schlechten Tag gehabt, das ist alles. Das kann ja jedem mal passieren. Was hat der Doktor gesagt?«
»Nichts Schlimmes«, antwortet Lena. »Dein Herz ist nicht mehr so jung, aber es ist nichts Ernstes. Du sollst dich ein bisschen mehr schonen, hat er gesagt.«
Frau Kronawitter ist erleichtert. Die grauen Nebel haben einen Namen: Das Herz ist nicht mehr so jung, aber es ist nichts Ernstes. Erst jetzt merkt sie, dass sie Angst gehabt hat.
»Du sollst zu ihm in die Praxis kommen, wenn du wieder aufstehen kannst.«
Frau Kronawitter lacht. »Ja, ich gehe morgen. Morgen Mittag werde ich hingehen.«
»Aber morgen lässt du den Laden noch zu«, verlangt Lena.
»Ja. Morgen schon noch.«
Lena schiebt sie zum Schlafzimmer. »Du legst dich jetzt wieder hin. Ich mach was zu essen.«
Frau Kronawitter ist müde. »Ja.«
Die Lena kocht Grießbrei. »Wie früher«, ruft sie aus der Küche herüber. »Erinnerst du dich noch, Hannerl, wie oft wir für die Kinder Grießbrei gekocht haben?«
Frau Kronawitter macht die Augen zu. Grießbrei mit Magermilchpulver ist es in der ersten Zeit nach dem Krieg gewesen. Dann gab es wieder Vollmilch und noch später richtige Butter. Aber da haben Lena und sie den Grießbrei für die Kinder nicht mehr zusammen gekocht. Da sind ihre Männer schon wieder zu Hause gewesen.
Und Theo hat die Lena nie leiden können.
Er hat überhaupt nicht gewollt, dass sie sich mit anderen Frauen abgegeben hat. »Die gucken nur in alles rein und zerreißen sich nachher die Mäuler.«
»Der
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