Kratzer im Lack
schnell an seinen Platz. Aber die Mutter hatte es gesehen.
»Wieso hast du die Sonntagshose an?«
Er schwieg, konnte nicht antworten.
»Also, was ist los? Wo ist die Hose?«
Die Mutter fand die Hose. Sie suchte so lange, bis sie sie fand.
»Du hast das mit Absicht getan«, schrie sie und hielt ihm das Loch vors Gesicht.
Er konnte nur den Kopf schütteln.
»Doch, das sieht man ja. Gib’s wenigstens zu! Sag, dass du es mit Absicht getan hast.« Die Stimme der Mutter war sehr laut und böse. Er wurde geschlagen. Erst Ohrfeigen von der Mutter, dann zehn mit dem Gürtel, vom Vater.
Und geholfen hatte das Loch auch nichts. Am nächsten Morgen hing die Hose wieder über seinem Stuhl, die Mutter hatte einen dunklen Flicken draufgenäht.
»Glaubst du, wir haben es so dick, dass wir einfach eine Hose wegschmeißen können?«
Nein, die Mutter hatte das nicht verstanden. Sie hat nie etwas verstanden. Herbert ballt die Hände in der Tasche. Wie er diese Hose gehasst hat. Es hat lange gedauert, bis er aus ihr herausgewachsen war. Neue Knickerbocker hat die Mutter ihm nicht mehr gekauft.
Herbert ist in der Breslauer Straße. Es ist jetzt wirklich dunkel. Am Straßenrand stehen die geparkten Autos. Herbert schaut sich um. Es ist niemand in der Nähe, nur ganz hinten gehen zwei Leute. Er nimmt das Messer aus der Tasche und lässt es aufschnappen. Neben ihm ist ein heller Volkswagen. Er nimmt das Messer ganz kurz und drückt mit dem Daumen fest auf die Klinge, als er es ansetzt.
Es macht fast kein Geräusch. Je fester er draufdrückt und je langsamer er die Klinge über das Auto zieht, desto leiser ist es. Aber die Kratzspuren kann er mit den Fingerspitzen fühlen.
Da ist sie wieder, die Erregung, die alles wegwischt, alles andere unbedeutend macht. Nur das will er, diese Erregung, dieses Gefühl. Und dass es noch nicht Nacht ist, dass jemand aus der Haustür kommen könnte und ihn sehen, das macht es noch viel schöner. Er schaut sich um, schiebt sich langsam an den Autos vorbei, und die Muskeln an seinem Arm zittern vor Anstrengung, weil er so fest aufdrückt. Ich bin nicht so klein, denkt er, ich bin kein Schwächling, kein Feigling. Die glauben alle, sie könnten mit mir machen, was sie wollen. Aber das stimmt nicht. Ich mache mit ihren Autos, was ich will.
Butch und seine Männer haben sich in dem einsamen Blockhaus verbarrikadiert. Durch eine Ritze zwischen den dicken Holzbrettern sieht Butch im Licht der untergehenden Sonne die Indianer. Viele sind es und immer neue kommen. »Männer«, sagt er, »wir müssen durchbrechen. Hier haben wir keine Chance. Es sind zu viele. Schnell müssen wir sein und unerschrocken. Wenn es etwas dunkler geworden ist, schleichen wir los. Jeder nimmt nur sein Messer. Leise muss alles gehen, ganz leise. Zeigt, was ihr könnt, Männer, und zögert nicht, eure Messer zu gebrauchen. Stecht zu, dann können wir es schaffen. Stecht.«
20.
Frau Kronawitter hört von den zerkratzten Autos erst nachmittags. Kurz nach drei ist es, sie hat den Laden gerade wieder aufgemacht, als Frau Hellberger mit ihren Zwillingen hereinkommt und Lutscher und Gummibärchen kauft.
Frau Hellberger reißt das Einwickelpapier von zwei roten Lutschern ab – komisch, von zehn verkauften Lutschern sind acht rot – und hält sie ihren Kindern hin. Die beiden grabschen danach und fangen eifrig an zu lecken. Dicke kleine Hände haben sie, mit spitz zulaufenden Wulstfingern. Kleine Kinder sollten nicht so dick sein, rundlich schon, aber nicht fett.
»Haben Sie schon gehört, was heute Nacht bei uns passiert ist, Frau Kronawitter? Mein Mann wollte um sieben zur Arbeit fahren und da hat er es gesehen. Die ganze Autotür zerkratzt. Was glauben Sie, wie der sich geärgert hat. Und dann ist noch der Herr Kübler gekommen, der bei uns im Haus wohnt, ganz oben im letzten Stock. An seinem funkelnagelneuen Wagen ist auch die Tür zerkratzt. Vor einer Woche hat er ihn erst gekriegt, ein Golf, ein hellbeiger. Und beim Herrn Müller von nebenan war auch das Auto zerkratzt. Und beim Spiegler. Schlimm, sag ich Ihnen. Überall Kratzer im Lack. Mein Mann hat eine Anzeige gemacht, gegen unbekannt, aber was nützt das schon? Es wird noch nicht einmal von der Versicherung bezahlt, hat der Kübler gesagt. Höchstens, wenn man die erwischt, die das gemacht haben.«
Frau Kronawitter schaut Frau Hellberger in das fade, blonde Sommersprossengesicht. Da sind sie wieder, diese Nebel. Aber sie haben ja einen Namen. Das Herz ist nicht mehr so
Weitere Kostenlose Bücher