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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Grießbrei ist fertig«, ruft Lena aus der Küche. »Willst du Zimt drauf?«

17.
    »Zwei Banjos«, sagt Herbert. »Zwei Banjos, bitte.«
    Zwei Tage ist der Laden zu gewesen. Die Alte soll krank gewesen sein. Ein bisschen komisch hat sie sich ja auch benommen, das letzte Mal. »Ich will dir etwas sagen.« Im ersten Moment hat er tatsächlich geglaubt, sie wüsste was. Er muss lachen, als er daran denkt, wie er plötzlich Angst bekommen hat.
    Sie schaut ihn erstaunt an.
    »Geht es Ihnen wieder gut?«, fragt er hastig. »Ich habe gehört, Sie waren krank.«
    »Ja, ja, es geht wieder«, sagt sie. »Wir werden alle nicht jünger.«
    Was für ein blöder Satz, denkt Herbert. Das weiß doch jeder. Aber wie eindringlich sie spricht, als wäre das was Besonderes, als würden die Worte etwas ganz anderes bedeuten. Sie ist schon komisch. Vielleicht kommt das vom Alter.
    Sie hält ihm die Tüte mit den Banjos hin. Er nimmt sie, fühlt, dass er irgendwas sagen müsste, weil sie darauf wartet, aber es fällt ihm nichts ein. »Hübsche Tüten sind das«, sagt er endlich.
    Sie schaut ihn erfreut an. »Ja, nicht wahr? Schon vor dem Krieg haben wir solche gehabt.«
    Wozu stehe ich hier rum und rede mit ihr über Tüten, Sternchentüten? Idiotisch ist das. Aber sie sieht richtig aufgeregt aus. Wie sie mich anstarrt.
    »Na ja, dann«, sagt er und dreht sich schnell um. »Auf Wiedersehn, Frau Kronawitter.«
    Er will weg von diesen Augen. Raubvogelaugen hat sie. Hexenaugen.
    »Auf Wiedersehn, Herbert.«
    Ihre Stimme ist zittrig. Eine Altweiberstimme. Vielleicht stimmt das doch nicht, das mit den Hexenaugen.
    Er fühlt sich richtig erleichtert, als er draußen auf der morgenkalten Straße ist. Er geht nach rechts, zur Schule.
    Einen eigenartigen Traum hat er gehabt heute Nacht. Eigenartig und schön. Nein, anfangs war er nicht besonders schön, aber dann schon.
    Er war mit seinen Eltern am Meer. Zuerst ist alles so gewesen wie immer, sengende Hitze, heißer Sand, Radiomusik, viele Menschen und der bittere Geruch von Sonnenöl auf schwitzender Haut, Männer mit dick glänzenden Bäuchen und Frauen, die ihre Wabbelhaut zeigen, ohne sich zu genieren.
    Herbert ist allein ins Wasser gegangen. Pass auf, hat die Mutter gesagt, dass dir nichts passiert.
    Er ist weit hinausgeschwommen, so weit, dass er nichts mehr hören und sehen konnte von den Menschen, nur noch glitzernde, flimmernde Luft um ihn. Seine Augen brannten vom Salz und von den Lichtflecken, die auf dem grünlichen Wasser tanzten.
    Und dann hörte er mit den Schwimmbewegungen auf, einfach so, ohne Grund. Er ließ sich treiben, von den Wellen wiegen, ganz weich und schwebend. Langsam sank er immer tiefer. Zuerst, direkt unter der Oberfläche, war es noch hell im Wasser, aber dann wurde das Licht um ihn dunkelgrün und flüssig. Ein großer Fisch kam angeschwommen. Er bewegte träge die Flossen und kam direkt auf Herbert zu, riesengroß, mit gleichgültigen, bernsteinfarbenen Glotzaugen. Aber Herbert hatte keine Angst. Der Fisch machte sein Maul auf, ganz weit, wie der Eingang zu einer Höhle war dieser Schlund. Herbert tauchte, ohne sich zu wehren, in den Fisch hinein. Es war warm in seinem Bauch. Ein guter Platz zum Ausruhen.
    Herbert ist nur widerwillig aus dem Traum aufgewacht. Er ist böse gewesen auf seine Mutter, die ihn aus der Fischhöhle herausgeholt hat.
    Ein komischer Traum, wirklich.
    Herbert zieht ganz automatisch die Schultern hoch, als er an der Schule ankommt, und holt ein Banjo aus der Tasche. Er hat fast keine Angst.
    Aber es dauert nicht lange, da ist die Angst wieder da, die Spannung, der Druck im Kopf, die kreisenden Gedanken, alles ist wieder da. Dabei ist nur eine Kleinigkeit passiert, nichts Aufregendes. Schon oft sind solche Witze mit ihm gemacht worden.
    Er kommt ins Klassenzimmer und sieht, dass auf seinem Tisch ein Blatt Papier liegt. Er muss sehr nah hingehen und die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, was die Zeichnung bedeutet. Eine aufrecht stehende Ratte mit einer überdimensional großen Brille und einem winzigen, undeutlich gezeichneten Penis. Wie ein paar zufällig hingekritzelte Linien sieht das aus, aber Herbert versteht es sofort. Er merkt, wie er anfängt zu zittern und der Raum vor seinen Augen verschwimmt. Nichts anmerken lassen. Seine Lippen sind fest geschlossen, als er das Blatt nimmt und zum Papierkorb trägt. Er schaut geradeaus, er will die Gesichter nicht sehen. Er fühlt auch so, wie ihre Blicke über sein Gesicht laufen, er spürt

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