Kratzer im Lack
Warum?
Müde sitzt sie auf dem Stuhl, schaut über die angestaubten Pralinenschachteln in ihrem kleinen Schaufenster hinweg auf die Straße, die sie kennt, seit sie ein Kind war. Sie kennt auch die meisten Leute, die hier wohnen, weiß, wann sie geheiratet haben, wie alt ihre Kinder sind, weiß, was sie arbeiten, wie viel der Mann verdient.
Aber wie sie wirklich leben, weiß sie nicht.
Es geht sie ja auch nichts an. Es gibt einfach Sachen, die man nicht sagt und die man nicht fragen kann. Das ist vielleicht auch besser so.
Oder hätte sie etwa die Lena fragen sollen, was sie gefühlt hat, als die Sache mit Edi war? Das ist einfach nicht möglich gewesen. Sie hätte sich der Lena doch nicht aufdrängen können. Vielleicht, wenn sie früher angefangen hätten, über so was zu reden. Vielleicht damals im Krieg und kurz danach, bevor ihre Männer heimgekommen sind. Da sind sie sich sehr nah gewesen, sie und Lena.
Aber danach?
Als der Edi fremdgegangen ist, eine Geschiedene war es mit einem Kind, hat Lena so getan, als würde sie nichts davon wissen. Sie hat lauter gelacht als sonst, aber ihr Gesicht ist viel älter geworden.
Frau Kronawitter hat nicht gesagt: Lena, ich weiß. Sie hat nicht gesagt: Lena, ich halte zu dir. Sie hat auch so getan, als wüsste sie nichts.
Was hätte sie auch sagen sollen außer:
So ist das Leben, Lena.
Da kann man nichts machen.
Man muss sich halt fügen.
Das Leben ist kein Honigschlecken.
Jeder hat sein Päckchen zu tragen.
Als ob es was genützt hätte, wenn sie so was gesagt hätte. Es wäre Lena nur peinlich gewesen.
Der Edi ist zurückgekommen. Es hat nicht geklappt mit der Neuen, die war wohl zu anspruchsvoll. Jetzt ist der Edi schon lange krank, Gicht hat er, verkrüppelte Gelenke, und Lena pflegt ihn. Sie wird ihn pflegen, bis er stirbt. Oder bis sie stirbt. Aber im Stich lässt sie ihn nicht.
Ach Lena, ist das Leben wirklich so?
Frau Kronawitter räumt die Banjos von der Theke weg, legt sie in ein Fach im Regal. Sie will sie nicht dauernd sehen, wenn sie so sitzt. Sie schiebt die anderen Sachen weiter vor, die Treets und die Hanutas, damit die Reihe wieder geschlossen ist.
Der Junge, er hat auch schon eine Mauer um sich, aber eine, wo man noch durchdringen könnte. Mit den Augen könnte man noch durchdringen, vielleicht auch mit Worten.
Wenn man den richtigen Blick hätte und die richtigen Wörter wüsste.
19.
Herbert weiß nicht, was er mit sich anfangen soll. Er ist aufgeregt und unruhig. Er möchte etwas tun, irgendetwas, findet aber nichts. Nach dem Mittagessen versucht er es mit Radfahren, fährt aus der Stadt hinaus, kämpft gegen den Wind an, flucht, sagt all die Wörter, die er sonst nicht benutzt, die bösen, unanständigen Wörter, für die ihm die Mutter den Mund mit Seife auswaschen würde. Er rast den Berg hinunter und versucht, die Freiheit wiederzufinden, den Traum von Freiheit und Macht.
Aber Butch kommt heute nicht, er kann versuchen, was er will. Butch versteckt sich vor ihm. Er will nicht. Herberts Versuche, etwas zu erleben, bleiben hölzern. Er gibt auf.
Als er müde und erschöpft das Fahrrad den Berg hinaufschiebt, denkt er an das rote Auto. Es ist schon so lange her. Man hat ihn nicht erwischt, aber es redet auch niemand mehr darüber. Die Polizei sucht nicht weiter. Nächste Woche spätestens wird die Autotür wieder rot sein und dann ist es ganz vorbei. Kein Triumph mehr, nur eine fade Erinnerung.
Er ist müde, als er nach Hause kommt, aber das ist alles. Er weiß immer noch nicht, was er mit sich anfangen soll. Lustlos setzt er sich an den Schreibtisch. Ratte mit Brille.
Er nimmt die Brille in die Hand, betrachtet sie, dreht sie, hält sie gegen das Fenster. Dieses falsch glitzernde Gold. Wie ist er nur auf die Idee gekommen, eine goldene Brille zu nehmen? Prüfend hält er ein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger. Es ist ziemlich dick. 3,0 Dioptrien hat er auf dem linken Auge, 3,5 auf dem rechten. Er drückt an der Brille herum, spielt damit und ist überrascht, als ihm ein Glas in die offene Hand fällt.
Ich habe es wirklich nicht mit Absicht gemacht, Mama.
Erschrocken versucht er, es wieder in das leere Gestell hineinzudrücken, in den runden, nackten Metallbogen. Aber es gelingt ihm nicht, das Glas fällt immer wieder heraus.
Er schaut auf die Uhr. Halb sechs, es wird schon dunkel. Schnell zieht er seinen Anorak an und rennt los, die Potsdamer Straße entlang, rechts um die Ecke, noch zweihundert Meter durch die Breslauer
Weitere Kostenlose Bücher