KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Nach einem sechsjährigen Studium und knapp zwei Jahren Forschung hatte ich 13 Jahre zuvor begonnen, mich als Radioonkologe zu spezialisieren. Seither kümmerte ich mich tagein, tagaus um Patienten, die sich wegen der unterschiedlichsten Krebserkrankungen an unserer Tübinger Klinik vorstellten, die von uns Hilfe erwarteten und erhofften. Erst kürzlich war ich zum leitenden Oberarzt und stellvertretenden ärztlichen Direktor der Klinik für Radioonkologie ernannt worden. Viele tausend Stunden hatte ich also damit verbracht, mit Krebspatienten zu reden und Krebspatienten zu behandeln. Phasenweise zog ich mich immer wieder ins Labor zurück, um Stück für Stück mehr über »Krebs« herauszubekommen.
Jetzt aber war ich Imogens Mann und wich in den ersten Wochen nach dieser vernichtenden Diagnose fast 24 Stunden am Tag nicht mehr von ihrer Seite. Kurzum, ich war verwirrt, schockiert und dabei doch der ideale Adressat für ihre Fragen: Warum hat es mich erwischt?, fragte sich Imogen. Habe ich etwas falsch gemacht? Gibt es verborgene Risiken, die ich kennen muss? Was bedeutet meine Erkrankung für meine kleine Schwester oder meine Tochter?
Diese Fragen wirkten so, als ob sich immer neue Türen vor ihr und mir öffneten. Ihre Neugier führte immer tiefer und immer weiter: Was zur Hölle ist Krebs eigentlich? Was geht dabei im Körper vor? Warum und auf welche Weise entsteht Krebs? Wie funktioniert er? Ist Krebs eine Laune des Zufalls, ist er schicksalhaft, liegt er in den Genen, oder können Menschen durch ihr Verhalten Einfluss nehmen?
Daneben tauchten ganz praktische Fragen auf: Wie sähe ein optimaler Schutz vor Krebs aus? Gibt es Dinge, die sinnvoll sind und jenseits dessen liegen, was gern mit dem dummen Begriff »Schulmedizin« bezeichnet wird? Was kann ich selbst tun? Und es stellten sich auch Fragen ein, die aus der Angst geboren werden: Warum können Tumoren zurückkommen? Wie stellen sie das an? Wie und wo zeigt sich ein Rückfall? Gibt es dann noch Hoffnung?
Sie fragte, ich antwortete. Sie bohrte nach, ich ergänzte. Sie suchte nach Widersprüchen, ich erklärte alles, soweit ich es konnte. Oft trieb mich Imogen an den Rand meines Wissens und an die Grenzen medizinischen Wissens überhaupt. Noch nie zuvor hatte mich eine Patientin so herausgefordert. Sie war klug, sie war Medizinerin, sie hatte Gelegenheit, Tag und Nacht zu fragen – und sie tat es. Denn für sie waren es Fragen über Leben undTod. Zwischen uns entstand ein Dialog über Krebs , der sich bis in die letzten Tage der zwei Jahre währenden Geschichte ihrer Krankheit fortsetzte. Ihre Fragen wandelten sich, wechselnde Situationen rückten neue Themen in den Vordergrund. Unsere Gespräche warfen allgemeine und grundsätzliche, sachliche und emotionale, vor allem aber existentielle Fragen auf, die für alle Menschen mit Krebs von Bedeutung sind. Für mich dauert das Gespräch mit Imogen noch bis heute an. Es wirkt weiter – und Sie halten diese Gespräche als Buch in Händen, ein Buch, das ich schon immer entworfen und seit Jahren im Kopf geformt hatte, aber so, wie ich es jetzt schreiben musste, überhaupt nie schreiben wollte. Es ist mein und Imogens Buch für Sie und die vielen anderen Krebspatienten und ihre Familien und Freunde.
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Krebs ist schrecklich.
Eine Krebserkrankung wird als ein existentiell bedrohliches, außerordentliches und unwahrscheinliches Ereignis wahrgenommen. Für Gesunde gehört Krebs nicht zum Alltag, nicht zur Wirklichkeit. Glücklicherweise leben wir nicht im Gefühl ständiger Bedrohung. Erkrankt jedoch ein Mensch in unserer unmittelbaren Umgebung, verwandelt sich unser gewohnter Alltag von einer Sekunde zur anderen in einen Ausnahmezustand. Die Gesunden erwecken dagegen oft den Eindruck, als lebten sie in einem Zustand gefühlter Unsterblichkeit. Endlichkeit wird im Alltag nicht bewusst gelebt. Es scheint selbstverständlich, dass das Leben sich an Regeln hält und einer natürlichen Chronologie zu folgen hat. Krankheit, Siechtum und Tod liegen für Menschen in der Mitte des Lebens in weiter Ferne als letztes, kaum sichtbares Glied am Ende einer langen Kette von Jahren. Den Gedanken, Krebs könnte diesen natürlichen Lauf der Dinge stören und den Tod mitten ins Leben holen, blenden wir – üblicherweise – aus.
Die vorgetäuschte Gelassenheit oder Indifferenz wie auch die Unwissenheit über Krebs ist allerdings mehr als erstaunlich: Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in den Industrienationen.
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