KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Verständnis der Krebserkrankung führt über drei ganz zentrale Konzepte der Biologie: das Konzept des Gens, das Konzept der Zelle und das der Evolution, der Geheimnisse alles Lebendigen.
Die Fragen meiner Frau führen durch das Buch. Jedes Kapitel antwortet auf eine Frage, die sie mir im Lauf ihrer Krankheit gestellt hat. Ich bin überzeugt, dass viele tausend andere Krebskranke sich genau diese oder ähnliche Fragen auch gestellt haben und täglich neu stellen. Für sie und ihre Freunde und Angehörigen ist dieses Buch in erster Linie geschrieben.
Vielleicht birgt es aber auch die eine oder andere Überraschung für die »Profis«, die beruflich jeden Tag mit Krebskranken zu tun haben. Ich war – und bin es immer noch – schließlich auch so ein »Profi«. Trotzdem musste und durfte ich durch die Krankheit meiner Frau Erfahrungen machen, die mir der »objektive« Blick von außen, aus der Distanz, nicht ermöglichthat. Diese Erfahrungen gaben den letzten und entscheidenden Anstoß zu diesem Buch.
Die Gespräche mit meiner Frau folgten nicht irgendeiner Rollenverteilung. Keineswegs war sie immer die Fragende und Lernende und ich der Dozierende. Im Gegenteil, unsere Rollen wechselten ständig. Das war eine Überraschung für mich. Obwohl die Situation uns oft grausam vorkam, bereicherten mich doch gerade diese Erfahrungen, weil ich ständig meine Perspektive als Arzt oder Wissenschaftler verlassen musste. In diesen Augenblicken war ich betroffen. Plötzlich sah ich hinter oder in die Krankheit hinein, ich sah, erkannte und fühlte die dunkle Seite des Mondes. Mein Wissen über den Krebs war damit nicht unwichtig geworden oder ausgelöscht. Aber der Blick auf die dunkle Seite veränderte mich. Das war eine der entscheidenden Lektionen, die mir Imogen beibrachte. Kein Außenstehender, auch kein Arzt mit langjähriger Erfahrung, kann die Totalität und das Ausmaß der Verwüstung nachvollziehen, das Krebs oft genug im Leben von Betroffenen, ihren Familien und Freunden anrichtet.
Mit dem Krebs tritt plötzlich der Tod
als reale Bedrohung mitten ins Leben. Wird Krebs nicht behandelt, führt er unaufhaltsam zum Tod. Krebs stellt alles, was das Leben ausmacht, unter Vorbehalt. Alles, was bisher zweifelsfrei war, muss nun überprüft werden. Ziele, Wünsche und Pläne werden obsolet oder auf unbestimmte Zeit eingefroren. Die Krankheit führt zur Umwertung wenn nicht aller, so doch vieler Werte. Die Prioritäten geraten völlig durcheinander. Kein Lebensbereich bleibt ausgeklammert, alles, vor allem die sozialen Beziehungen, sind plötzlich einem Selektionsdruck ausgesetzt. Ganz extrem betrifft dies Menschen, die nicht geheilt werden (können) und deren Tod abzusehen ist.
Nicht einmal eine erfolgreiche Behandlung gibt einem Patienten seinen Alltag, die Normalität seines Lebens, unversehrt wieder zurück. Der Weg zur Heilung ist wie ein zögerlicher Gang über brüchiges Eis. Jede Routineuntersuchung stellt aufs Neue die Frage nach Leben und Tod. Das Zutrauen mag mit der Zeit wieder wachsen, aber es dauert oft unendlich lang, bis Betroffene wieder tragfähigen Grund unter den Füßen spüren und erneut Vertrauen zum Leben fassen.
Die »Innensicht« bringt aber auch die größte Überraschung hervor: Was furchtbar klingt und furchtbar ist, kann gleichwohl zur Quelle des Glücks werden. Hierin war Imogen meine Lehrmeisterin. Krebs schärft den Blick fürdie Dinge, die dem Leben seine wirkliche Bedeutung, seinen Sinn geben. »Krankheit ist die Nachtseite des Lebens. […] Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken.« 3 Die meisten von uns kennen das zweite, ungeliebte Land der Krankheit nur vom Hörensagen oder allenfalls von kurzen Stippvisiten.
Und so ist dieses Buch auch ein Bericht über eine unfreiwillige Reise tief in den schier unendlichen Kontinent der unheimlichsten aller Krankheiten: Krebs. Unsere – Imogens und meine – Reise führte in den Tod. Auf dem Weg dorthin erlebten wir aber auch Momente tiefen Glücks und Augenblicke nie gespürter Nähe, wie sie keiner von uns vorher ermessen konnte. Auf dieser Reise erfuhr ich Facetten dieser Erkrankung, die ich vorher, beim Flug über diesen Archipel, aus der Vogelperspektive eines Onkologen, niemals erahnt hätte. Diese Erfahrungen scheinen im Schlusskapitel auf. Das Buch beruht auf ungezählten Gesprächen mit Imogen und ist im Grunde nur mein Versuch, diese Gespräche zu ordnen und in
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