KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
eine lesbare Form zu bringen.
Noch ein Wort zum Schluss: Dieses Buch ist eine Gratwanderung, die mich etwas beklommen macht. Imogen machte mir immer Mut, es zu schreiben. Allzu Privates vor einem großen Publikum auszubreiten befremdet mich. Noch mehr befremdet mich die mediale Gier nach solchen Geschichten aus dem menschlichen Gefühls- und Innenleben. Daher schildere ich die Geschichte von Imogens Krankheit nicht ausführlich, und unsere Liebe soll nur in Fragmenten und Andeutungen aufleuchten. Jedes dieser Fragmente wurde unter einem einzigen Gesichtspunkt ausgewählt: Es sind, davon bin ich überzeugt, typische, ja fast beispielhafte Szenen, die sich zwischen uns abspielten und die sich bei Krebserkrankungen jeden Tag auf der ganzen Welt wiederholen. Was wir erlebten und das, was Imogen wieder und wieder umtrieb, ist, so fühlte ich, in ähnlicher Form vielen Betroffenen und ihren Partnern widerfahren oder wird ihnen noch widerfahren.
Dieses Buch wollte ich so nie schreiben. Ich schreibe es nun doch in der tiefen Hoffnung, dass mehr Verständnis und weniger Vorurteile den Umgang mit Krebs erleichtern. Dass der Blick auf die hellen Seiten des Lebens den Betroffenen Mut macht. Dass Krebs auch den abgebrühten »Profis« zeigt, wie machtvoll diese Krankheit Perspektiven eröffnet oder erzwingt, die ärztliche Kunst und ärztliches Handeln weit übersteigen. Ein guter Arzt sollte wissen, wann er zu reden und wann er zu schweigen hat.
1. Kapitel
Nur Indizien und Verdächtige – Wer oder was ist Krebs?
Mittwoch, 14. Mai 2008
D ie flachen Granitsteine der alten Kapelle strahlen noch die Wärme ab, die sie in der Mittagssonne gespeichert haben. Viele hundert Meter unter mir breitet sich die gleißende Fläche des Luganer Sees aus. Wie ein gewaltiger alter Krake lässt er seine Arme zwischen die steilen Hänge der Tessiner Alpen vortasten. Nichts ist hier oben von der geschäftigen Diesseitigkeit im mondänen Lugano zu spüren.
Ich ließ meine Gedanken baumeln und war ganz versunken in die herzzerreißende Schönheit des Ausblicks, als meine Frau mich in die Wirklichkeit zurückholte: »Ich muss etwas übersehen haben.« Imogen saß mir gegenüber auf einem Mäuerchen, den Rücken gegen eine mächtige Steinsäule gelehnt. »Es muss doch Spuren geben, irgendeinen Grund, warum gerade ich mit 35 Jahren Brustkrebs bekomme. Wann habe ich die entscheidenden Fehler gemacht?«
Ich muss gestehen, dieser Moment erwischte mich kalt, und ich lavierte. »Nein, nein – niemand kann im Einzelfall die Ursache benennen. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Wichtiger ist der Blick nach vorn.« Und so weiter, und so weiter … Imogen war unzufrieden – mit Recht. »Wisst ihr Onkologen überhaupt genug vom Krebs?«, fuhr sie fort. »Drückt ihr euch deswegen? Und vor allem, woher wollt ihr denn das alles so genau wissen? Bewegt ihr euch, wenn ihr überhaupt mal die Zähne auseinander bekommt, nicht auf ziemlich dünnem Eis?«
Ihre Brustkrebsdiagnose war gerade vier Wochen alt, und Imogen hatte die erste Behandlung einer Chemotherapie hinter sich gebracht. In der Therapiepause vor der zweiten Behandlung fuhren wir mit unserer kleinen Tochter in ein Haus von Freunden am Luganer See. Wir wollten und mussten durchatmen. Diese Weltecke war idyllisch und tat uns gut. Für Augenblicke schien es ein üblicher Sommerurlaub zu sein. Imogen aber war aufgewühlt; in ihr arbeitete es: Was ist überhaupt Krebs? Hat die Biographie eines Menschenetwas mit der Erkrankung zu tun? Wenn ja, wie? Und vor allem: Wissen wir überhaupt genug, um solche Fragen sinnvoll zu beantworten?
Zu viel für eine Antwort in drei Sätzen. Also setzten wir uns abends auf die Terrasse, den Blick auf den See und die Berge, der sternklare Himmel verwandelte die Nacht in eine großartige Kulisse, und ich begann zu erzählen. Diese Geschichte sollte uns während Imogens Krankheit immer begleiten, und noch heute spüre ich, dass es gut ist, diese Geschichte zu erzählen.
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Wer oder was ist Krebs?
Die Frage lässt den Onkologen, also den Wissenschaftlern, die sich professionell mit dem Krebs auseinandersetzen, seit vielen Jahrhunderten keine Ruhe. Ist Krebs ein Täter, oder sind es viele ? Ist Krebs überhaupt eine Krankheit, oder handelt es sich um viele, ganz verschiedene Krankheitsbilder, denen ein Name, ein Begriff gegeben wurde? Dieses Bündel wichtiger grundlegender Fragen möchte ich hier aufrollen, Ihnen zunächst nur Indizien vorlegen und bestimmt
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