Das Schloss in Frankreich
I. K APITEL
Die Bahnfahrt schien nicht enden zu wollen, und Shirley war erschöpft. Die letzte Auseinandersetzung mit Tony bedrückte sie. Hinzu kamen der lange Flug von Washington nach Paris und die beschwerlichen Stunden in dem stickigen Zug. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Ich bin schlimm dran, fand sie.
Diese Reise hatte sie nach einem der häufigen Wortgefechte mit Tony angetreten, denn ihre Beziehung war ohnehin schon wochenlang getrübt gewesen. Sie hatte darauf beharrt, sich keine Ehe aufzwingen zu lassen, und so war es immer wieder zu kleinen Streitereien gekommen. Doch Tony hatte auf einer Heirat bestanden, und seine Geduld war nahezu unerschöpflich. Als sie ihn allerdings von ihren Reiseplänen unterrichtet hatte, war der Konflikt zwischen ihnen offen ausgebrochen.
»Du kannst dich doch nicht einfach nach Frankreich davonmachen, um irgendeine mutmaßliche Großmutter zu besuchen, von deren Existenz du bis vor wenigen Wochen nicht die leiseste Ahnung hattest.« Tony schritt auf und ab. Erregt fuhr er sich mit der Hand durch das wellige blonde Haar.
»Es handelt sich um die Bretagne«, belehrte Shirley ihn. »Und es spielt überhaupt keine Rolle, wann ich ein Lebenszeichen von meiner Großmutter erhielt. Wichtig ist nur, dass sie mir geschrieben hat.«
»Diese alte Dame teilt dir also mit, dass sie mit dir verwandt sei und dich kennen lernen möchte, und gleich machst du dich auf die Reise.« Er war außer sich.
Trotz ihrer Angriffslust widersetzte sie sich seinen Vernunftgründen mit einer ruhigen Antwort: »Tony, vergiss nicht, dass sie die Mutter meiner Mutter ist. Die einzige lebende Verwandte. Ich möchte sie unbedingt sehen.«
»Die alte Frau lässt vierundzwanzig Jahre nichts von sich hören, und nun plötzlich diese feierliche Einladung.« Tony durchquerte weiter das große Zimmer mit der hohen Decke, ehe er sich zu Shirley umdrehte. »Weshalb, um alles in der Welt, haben deine Eltern nie von ihr gesprochen? Und warum hat sie erst deren Tod abgewartet, bevor sie sich mit dir in Verbindung setzte?«
Shirley wusste, dass er sie nicht verletzen wollte, das lag nicht in seiner Natur. Als Rechtsanwalt, der ständig mit Fakten und Zahlen umging, ließ er sich eher von seinem Verstand leiten. Darüber hinaus ahnte er nichts von dem bohrenden Schmerz, der sie seit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern vor zwei Monaten unablässig quälte. Obwohl ihr klar war, dass er ihr nicht zu nahe treten wollte, wurde sie wütend. Ein Wort gab das andere, bis Tony aus dem Zimmer stürmte und sie zornig zurückließ.
Während der Zug durch die Bretagne fuhr, gestand Shirley sich ihre Zweifel ein. Warum hatte ihre Großmutter, diese unbekannte Gräfin Frangoise de Kergallen, sich fast ein Vierteljahrhundert in Schweigen gehüllt? Weshalb hatte ihre bezaubernde, faszinierende Mutter niemals Angehörige in der entlegenen Bretagne erwähnt? Selbst ihr freimütiger, offenherziger Vater hatte die verwandtschaftliche Beziehung jenseits des Atlantiks verschwiegen.
Shirley ließ ihre Gedanken zurückwandern. Sie und ihre Eltern waren einander so nahe und hatten viel gemeinsam unternommen. Bereits im Kindesalter begleitete sie ihre Eltern auf Empfänge bei Senatoren, Kongressabgeordneten und Botschaftern.
Ihr Vater, Jonathan Smith, war ein gefragter Künstler. Seine erlesenen Porträts bereicherten den Privatbesitz der Washingtoner Gesellschaft, die sein Talent mehr als zwanzig Jahre lang beanspruchte. Als Mensch wie auch als Künstler war er sehr beliebt, und der sanfte, graziöse Charme seiner Frau Gabrielle trug dazu bei, dass das Ehepaar hohe gesellschaftliche Anerkennung in der Hauptstadt genoss.
Als Shirley heranwuchs, zeichnete sich auch ihre natürliche künstlerische Begabung ab. Ihr Vater war grenzenlos stolz. Sie malten gemeinsam, zunächst als Lehrer und Schülerin, später als ebenbürtige Partner. Ihre gegenseitige Freude an der Kunst brachte sie einander immer näher.
Die kleine Familie lebte idyllisch in einem eleganten Bürgerhaus in Georgetown, bis Shirleys fröhliche Welt auseinander brach, denn das Flugzeug, das ihre Eltern nach Kalifornien bringen sollte, stürzte ab. Der Gedanke, dass sie tot waren und sie selbst noch lebte, war kaum erträglich. Die hohen Räume würden nie mehr widerhallen von der dröhnenden Stimme ihres Vaters und dem sanften Lachen ihrer Mutter. Das Haus war leer und barg nur noch Schatten der Erinnerung.
Während der ersten Wochen konnte
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