Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
sie über ihn verfügen konnte, wie sie wollte – und sie wollte nicht so wie ich. Weder ihm noch ihr konnte ich etwas anhaben. Er würde, wie der freche Wanja unterm Galgen 27 , noch ein Liedchen singen von keck geküssten süßen Lippen und so weiter, und bliebe obenauf. Ihr aber könnte ich erst recht nichts anhaben. Wenn sie es nicht getan hatte, aber tun wollte, und ich wusste das, umso schlimmer: Besser noch wäre, sie hätte es getan, dann hätte ich Klarheit, und es gäbe keine Ungewissheit mehr. Ich hätte nicht sagen können, was ich eigentlich wollte. Ich wollte, dass sie nicht wollte, was sie doch wollen musste. Es war der reine Wahnsinn!»
XXVI
«Als der Schaffner bei der vorletzten Station die Fahrkarten einsammeln kam, packte ich meine Sachen und ging hinaus auf die Plattform; das Bewusstsein, dass die Entscheidung nahe war, dass sie unmittelbar vor mir lag, verstärkte meine Aufregung. Mir wurde kalt, und meine Kiefer begannen so zu zittern, dass ich mit den Zähnen klapperte. Mechanisch, inmitten der Menge verließ ich den Bahnhof, nahm eine Droschke, stieg ein und fuhr los. Ich fuhr und betrachtete die spärlichen Passanten, die Nachtwächter und die Schatten, welche die Laternen und meine Droschke abwechselnd vor und hinter uns warfen; dabei dachte ich an nichts. Nach etwa einer halben Werst bekam ich kalte Füße und erinnerte mich, dass ich im Zug meine Wollstrümpfe ausgezogen und in die Reisetasche gesteckt hatte. Wo war die Tasche? Hatte ich sie dabei? Ja. Und der Korb? Ich begriff, dass ich mein übriges Gepäck ganz vergessen hatte, ich zog den Gepäckschein hervor, beschloss aber, nicht eigens umzukehren, sondern weiterzufahren.
Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht an meinen Zustand in jenen Minuten erinnern: Woran dachte ich? Was wollte ich? Ich
weiß nichts mehr. Ich erinnere mich nur, dass mir bewusst war, dass in meinem Leben etwas Furchtbares und sehr Wichtiges bevorstand. Ob dieses Wichtige dann deshalb geschah, weil ich das glaubte, oder weil meine Vorahnung richtig gewesen war – ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch so, dass nach dem, was geschehen ist, alle vorangegangenen Minuten in meiner Erinnerung in einem düsteren Licht erscheinen.
Die Kutsche hielt vor meinem Haus. Es war nach Mitternacht. Vor dem Eingang standen einige Droschken, die wegen der erleuchteten Fenster im Haus noch auf Fahrgäste warteten (die Fenster gehörten zu unserer Wohnung, zum Musikzimmer und zum Salon). Ohne zu begreifen, warum bei uns so spät noch Licht war, ging ich, immer noch in derselben Erwartung von etwas Furchtbarem, die Stufen hinauf und läutete. Unser Diener, der gutmütige, eifrige und sehr dumme Jegor, öffnete. Das Erste, was mir auffiel, war, dass im Vorzimmer an der Garderobe neben anderen Kleidern auch sein Mantel hing. Ich hätte mich wundern müssen, aber ich wunderte mich nicht, genau das hatte ich erwartet. ‹Es ist wirklich wahr›, dachte ich. Ich fragte Jegor, wer hier sei, er nannte mir Truchatschewski, ich fragte, ob außerdem noch
jemand da sei. Er sagte: ‹Sonst niemand, gnädiger Herr.›
Ich weiß noch, dass er mir das in einem Ton sagte, als wollte er mir eine Freude machen und meine Befürchtungen zerstreuen, es könnten noch andere Leute da sein.
‹So, so, sonst niemand›, sagte ich wie zu mir selbst. ‹Und die Kinder?›
‹Sind gesund, Gott sei Dank. Sie schlafen längst.›
Ich konnte weder durchatmen noch mit dem Zähneklappern aufhören. ‹Also ist es nicht, wie ich geglaubt habe: Früher dachte ich oft, es sei ein Unglück geschehen, und dann stellte sich heraus, dass alles gut war, alles beim Alten. Aber diesmal ist nichts beim Alten, alles, was ich mir vorgestellt habe und wovon ich glaubte, ich hätte es mir nur vorgestellt, ist wirklich eingetreten, alles ist wirklich wahr. Wirklich wahr …›
Ich wäre beinahe in Schluchzen ausgebrochen, aber sofort flüsterte der Teufel mir ein: ‹Weine nur, werde sentimental, derweil gehen sie in Ruhe auseinander, dann gibt es keine Beweise, und du wirst ewig zweifeln und dich quälen.› Sofort war meine Rührseligkeit verschwunden, und an ihre Stelle trat ein seltsames Gefühl – Sie werden es nicht glauben -, ein Gefühl von Freude,
dass meine Qual nun ein Ende hatte, dass ich sie bestrafen, sie mir endlich vom Hals schaffen und meiner Wut freien Lauf lassen konnte. Und so ließ ich ihr freien Lauf – ich wurde zum Tier, zu einem bösen, schlauen Tier.
‹Lass nur, lass nur›,
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