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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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nicht mehr erkennen. Ich hörte nur seine immer aufgewühltere, schmerzerfüllte Stimme.
    «Ich hatte fünfunddreißig Werst 26 mit der Kutsche zu fahren und danach acht Stunden mit der Eisenbahn. Die Fahrt mit der Kutsche war wunderbar. Es war Herbst, frostig bei strahlender Sonne. Wissen Sie, diese Jahreszeit, wenn die Straßen ölig glänzen und die Hufabdrücke sich scharf darauf abzeichnen. Ebene Straßen, strahlendes Licht, erfrischende Luft – im Tarantas fuhr es sich angenehm. Seit es hell und ich unterwegs war, war mir leichter ums Herz. Beim Blick auf die Pferde, die Felder, die Leute am Weg vergaß ich, wo ich hinfuhr. Zuweilen kam es mir vor, als führe ich einfach dahin und als würde all das, was mich zum Aufbruch getrieben hatte, gar nicht existieren. Und dieses Vergessen stimmte mich eigentümlich froh. Wenn mir mein Ziel dann wieder einfiel, sagte ich mir: ‹Abwarten, nicht darüber nachdenken!› Überdies
geschah auf halbem Weg etwas, das mich aufhielt und noch mehr ablenkte: Der Tarantas brach und musste repariert werden. Dieser Zwischenfall war insofern von Bedeutung, als er dazu führte, dass ich nicht wie geplant um fünf Uhr, sondern erst um Mitternacht in Moskau und noch etwas später zu Hause eintraf, da ich den Kurierzug verpasste und stattdessen den Personenzug nehmen musste. Das Besorgen eines Fuhrwerks, die Reparatur, das Bezahlen, der Tee in einer Herberge, die Unterhaltung mit dem Wirt – all das lenkte mich zusätzlich ab. Als es dämmerte, war alles bereit, ich setzte meine Reise fort, und nach Sonnenuntergang fuhr es sich noch besser als am Tag. Der junge Mond am Himmel, der leichte Frost, die weiterhin ausgezeichnete Straße, die Pferde, der fröhliche Kutscher – ich fuhr und genoss die Fahrt und dachte dabei fast nicht an das, was mich erwartete, oder vielleicht genoss ich die Fahrt gerade deshalb besonders, weil ich wusste, was mich erwartete, und von den Freuden des Lebens Abschied nahm. Doch diese ruhige Phase, in der es mir gelang, mein Gefühl zu unterdrücken, endete mit der Kutschfahrt. Kaum war ich in den Zug gestiegen, begann etwas ganz anderes. Diese achtstündige Zugfahrt war ein einziges Grauen für
mich, ich werde sie zeitlebens nicht vergessen. Ob es daher kam, dass ich, sobald ich im Zug saß, schon meine Ankunft vor mir sah, oder daher, dass die Eisenbahn als solche aufwühlend auf den Menschen wirkt, jedenfalls wurde ich von diesem Moment an meiner Phantasie nicht mehr Herr: Sie begann mir in einem fort außerordentlich lebendige Bilder zu malen, die meine Eifersucht anfachten, eines nach dem anderen, eines schamloser als das andere, und alle handelten von demselben, nämlich davon, was dort in meiner Abwesenheit vorging, wie sie mich betrog. Ich brannte vor Empörung und Zorn, ich berauschte mich an meiner Erniedrigung, während ich diese Bilder betrachtete, von denen ich mich nicht losreißen konnte; weder konnte ich sie ignorieren noch löschen, noch konnte ich aufhören, sie heraufzubeschwören. Mehr noch, je länger ich diese Phantasiebilder betrachtete, desto realer schienen sie mir. Die Lebendigkeit, mit der ich sie vor mir sah, bewies mir gewissermaßen, dass meine Vorstellungen Wirklichkeit waren. Irgendein Teufel schien sich gegen meinen Willen die entsetzlichsten Dinge auszudenken und mir einzuflüstern. Mir kam ein Gespräch in den Sinn, das ich vor langer Zeit mit Truchatschewskis Bruder geführt hatte, und
ich riss mir mit wahrer Begeisterung das Herz in Stücke, indem ich dieses Gespräch auf Truchatschewski und meine Frau bezog.
    Das Gespräch lag sehr lange zurück, dennoch fiel es mir jetzt wieder ein. Truchatschewskis Bruder, so erinnerte ich mich, hatte einmal auf die Frage, ob er ins Bordell gehe, geantwortet, wozu sollte ein anständiger Mann an einen schmutzigen, widerwärtigen Ort gehen, wo man sich anstecken könnte, wenn sich doch immer auch eine anständige Frau finden lasse. Für seinen Bruder hatte sich nun also meine Frau gefunden. ‹Sie ist zwar nicht mehr die Jüngste, an der Seite fehlt ihr ein Zahn, und etwas dicklich ist sie auch›, dachte ich an seiner Stelle, ‹aber was soll man tun, man muss nehmen, was da ist.› – ‹Ja, er tut ihr noch einen Gefallen, indem er sie als Geliebte nimmt›, sagte ich mir. ‹Und dabei stellt sie keine Gefahr für ihn dar.› – ‹Nein, das ist unmöglich! Was denke ich da!›, erwiderte ich mir entsetzt. ‹Nichts davon ist wahr, gar nichts. Es gibt nicht den leisesten Grund,

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