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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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irgendetwas Derartiges anzunehmen. Hat sie mir nicht gesagt, dass sie allein den Gedanken, ich könnte seinetwegen eifersüchtig sein, erniedrigend findet?› – ‹Ja, aber das war doch gelogen, alles gelogen!›, schrie ich dann wieder auf – und
alles fing von vorne an… In meinem Wagen saßen nur zwei Passagiere, eine alte Frau und ihr Mann, beide sehr schweigsam, und auch sie stiegen an einer Station unterwegs aus, danach blieb ich allein. Ich war wie ein Raubtier im Käfig: Bald sprang ich auf und trat ans Fenster, bald lief ich schwankend herum, wie um den Zug dadurch anzutreiben, aber er klapperte nur weiter mit seinen Bänken und Fensterscheiben, genau wie unserer hier …»
    Posdnyschew sprang auf, ging einige Schritte und setzte sich wieder.
    «Angst machen mir diese Eisenbahnwaggons, Angst! Mir graut vor ihnen! Grauenvoll!», sprach er weiter.«Ich sagte mir: ‹Ich werde an etwas anderes denken. Zum Beispiel an den Wirt der Herberge, wo ich Tee getrunken habe.› Und in meiner Phantasie sah ich den Wirt mit seinem langen Bart vor mir, und seinen Enkel – einen Jungen im Alter meines Wassja. Mein Wassja! Er würde zusehen, wie dieser Musiker seine Mutter küsste. Was würde das in seiner armen kleinen Seele anrichten? Ihr konnte es ja egal sein! Sie liebte … Und wieder stiegen dieselben Bilder auf. Nein, nein … Ich werde an die Krankenhausbesichtigung denken. Daran, wie sich der Patient gestern über den Arzt beschwert
hat. Übrigens hatte der Arzt einen Schnurrbart wie Truchatschewski. Diese Dreistigkeit … Sie haben mich beide betrogen, als er von seiner Abreise sprach! Und wieder ging es von vorne los. Alles, woran ich dachte, stand in Zusammenhang mit ihm. Ich litt entsetzlich. Das Schlimmste waren die Ungewissheit, die Zweifel, der Zwiespalt; dass ich nicht wusste, ob ich sie lieben oder hassen sollte. Ich litt so sehr, dass mir der verlockende Gedanke kam, auszusteigen, mich unter den Wagen auf die Gleise zu legen und Schluss zu machen. Dann würde ich jedenfalls nicht mehr schwanken, nicht mehr zweifeln. Das Einzige, was mich davon abhielt, waren mein Selbstmitleid und der unmittelbar darauf folgende Hass gegen sie. Ihm gegenüber empfand ich neben dem Hass auch eine Art Anerkennung dafür, dass er mich besiegt und erniedrigt hatte, ihr gegenüber nur furchtbaren Hass. ‹Ich kann mich nicht umbringen und sie zurücklassen; sie muss zumindest auch leiden, zumindest begreifen, dass ich gelitten habe›, sagte ich mir. Ich stieg an jedem Bahnhof aus, um mich abzulenken. Einmal sah ich, dass am Buffet getrunken wurde, und sofort trank ich auch einen Wodka. Neben mir stand ein Jude, der ebenfalls trank. Er zog mich ins Gespräch, und
ich stieg, nur um nicht allein zu sein, mit ihm in seinen schmutzigen, verrauchten, mit Sonnenblumenkernschalen übersäten Dritter-Klasse-Wagen. Ich setzte mich neben ihn; er redete eine Menge und erzählte Anekdoten. Ich hörte zu, aber ich verstand nicht, was er sagte, weil ich weiter meinen eigenen Gedanken nachhing. Er bemerkte das und forderte mehr Aufmerksamkeit; da stand ich auf und ging wieder in meinen Wagen zurück. ‹Ich muss darüber nachdenken›, sagte ich mir, ‹ob es wahr ist, was ich vermute, und ob meine Qualen begründet sind.› Ich setzte mich hin und wollte in Ruhe nachdenken, doch stattdessen fing sofort wieder dasselbe an: statt klarer Gedanken nur Bilder und Vorstellungen. ‹Wie oft habe ich mich schon so gequält›, sagte ich mir (ich erinnerte mich an frühere, ähnliche Eifersuchtsanfälle), ‹und am Ende war es nichts. Vielleicht ist es jetzt auch so, sicher sogar, ich werde sie ruhig schlafend antreffen, sie wird aufwachen und sich freuen, mich zu sehen, und an ihren Worten und ihrem Blick werde ich spüren, dass nichts vorgefallen ist, dass das alles Unfug ist. Ach, wäre das schön!› – ‹Aber nein, so war es schon zu oft, diesmal ist es anders›, sagte mir eine andere Stimme, und wieder fing es von vorne an. Was für eine Heimsuchung! Wenn ich
einem jungen Mann die Lust auf Frauen hätte austreiben wollen, ich hätte ihn nicht in eine Syphilisklinik mitgenommen, sondern in mein Inneres, und ihm die Teufel gezeigt, die meine Seele in Stücke rissen! Das Entsetzliche war ja, dass ich glaubte, ein unzweifelhaftes, uneingeschränktes Recht auf den Körper meiner Frau zu haben, als wäre es mein eigener, und gleichzeitig spürte, dass ich nicht Herr über diesen Körper sein konnte, dass er nicht mir gehörte, sondern dass

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