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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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sagte ich zu Jegor, der sich Richtung Salon wandte, ‹nimm lieber rasch eine Droschke und fahr zum Bahnhof; hier ist die Quittung, hol meine Sachen ab. Beeil dich.›
    Er ging den Flur entlang, um seinen Mantel zu holen. Aus Angst, er könnte die beiden aufscheuchen, begleitete ich ihn bis zu seiner Kammer und wartete, bis er angezogen war. Aus dem Salon, zwei Zimmer weiter, hörte man Stimmen, Besteck- und Tellerklappern. Sie aßen und hatten das Läuten nicht gehört. ‹Wenn sie nur jetzt nicht herauskommen›, dachte ich. Jegor hatte seinen mit Astrachanpelz besetzten Paletot angezogen und trat auf den Flur. Ich ließ ihn hinaus und schloss die Tür hinter ihm ab; mir wurde unheimlich zumute bei dem Gedanken, dass ich nun allein war und auf der Stelle handeln musste. Wie, das wusste ich noch nicht. Ich wusste nur, dass alles vorbei war, dass es an der Schuld meiner Frau keinen Zweifel mehr gab, 28 dass ich sie jetzt gleich bestrafen und meine Beziehung zu ihr beenden würde.

    Bis dahin hatte ich noch geschwankt, ich hatte mir gesagt: ‹Vielleicht ist es gar nicht wahr, vielleicht irre ich mich›, aber das war vorbei. Alles war unwiderruflich entschieden. Ohne mein Wissen, allein mit ihm, nachts! Das hieß wirklich, alle Rücksichten vergessen. Oder noch schlimmer: Diese Kühnheit, diese Frechheit war Absicht – man sollte ein Zeichen von Unschuld darin sehen. Alles war klar. Es gab keinen Zweifel. Ich fürchtete nur, sie könnten rasch auseinandergehen, sich wieder eine neue Täuschung einfallen lassen, sodass ich nichts gegen sie in der Hand hätte und sie nicht bestrafen könnte. Um sie möglichst schnell zu ertappen, ging ich auf Zehenspitzen zum Musikzimmer, nicht durch den Salon, sondern durch den Flur und die Kinderzimmer.
    Die Jungen im ersten Zimmer schliefen. Im zweiten Zimmer regte sich die Kinderfrau, gleich würde sie aufwachen – ich stellte mir vor, was sie denken würde, wenn sie alles erführe, und dabei ergriff mich solches Mitleid mit mir selbst, dass ich die Tränen nicht zurückhalten konnte; ich lief auf Zehenspitzen, um die Kinder nicht zu wecken, auf den Flur hinaus und in mein Arbeitszimmer, ließ mich auf das Sofa fallen und brach in Schluchzen aus.

    ‹Das mir! Ich, ein ehrlicher Mann, ich, Sohn meiner Eltern, ich, der ich mein Leben lang vom Glück des Familienlebens geträumt habe, ich, der ich sie nie betrogen habe … Fünf Kinder, und fällt einem Musiker in die Arme, nur weil er rote Lippen hat! Das ist doch kein Mensch mehr! Eine abscheuliche läufige Hündin ist das! Und gleich im Nebenzimmer schlafen die Kinder, zu denen sie ihr Leben lang Liebe geheuchelt hat. Mir so einen Brief zu schreiben! Und sich so dreist einem anderen an den Hals zu werfen! Was weiß ich denn? Vielleicht geht das schon lange so. Vielleicht stammen all die Kinder, die für meine gelten, von den Dienstboten. Wäre ich morgen gekommen, hätte sie mich empfangen wie immer, mit dieser ihrer Frisur, dieser Taille, diesen trägen, anmutigen Bewegungen (ich sah ihr hübsches, verhasstes Gesicht vor mir), und das Raubtier Eifersucht hätte für alle Ewigkeit in meinem Herzen gesessen und es in Stücke gerissen. Was wird die Kinderfrau denken, und Jegor! Und die arme kleine Lisa! Sie begreift doch schon manches. Diese Dreistigkeit! diese Verlogenheit! und diese instinktive Sinnlichkeit, die ich so gut kenne!›
    Ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht. Mein Herz klopfte so stark, dass ich mich nicht
auf den Beinen halten konnte. Jawohl, gleich trifft mich der Schlag. Sie bringt mich um. Das ist doch genau, was sie will. Was macht es ihr schon aus, einen Menschen zu töten? Aber nein, das würde ihr zu gut passen, diese Freude mache ich ihr nicht. Ich sitze hier, und die beiden dort drüben essen und lachen und … Sie ist zwar nicht mehr die Frischeste, aber er hat sie nicht verschmäht: Ganz hübsch ist sie trotzdem, und vor allem gefährdet sie seine kostbare Gesundheit nicht. ‹Warum habe ich sie nur damals nicht erwürgt›, sagte ich mir, als mir der Moment vor einer Woche wieder einfiel, in dem ich sie aus meinem Arbeitszimmer gedrängt und mit Gegenständen um mich geworfen hatte. Ich erinnerte mich lebhaft an den Zustand, in dem ich damals gewesen war; mehr noch: Ich empfand wieder dasselbe Bedürfnis, zu schlagen, zu zerstören. Ich erinnere mich, dass ich unbedingt handeln wollte, und dass plötzlich alle Gedanken aus meinem Kopf verschwunden waren, außer denen, die eben zum Handeln nötig

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