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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Versammlungen, an diesen ungewohnten Orten immer lange nicht schlafen, doch diesmal nickte ich sehr schnell ein. Und wie es manchmal ist – plötzlich durchfährt es einen wie ein Stromschlag, und man ist wach. So wachte auch ich auf, und im Aufwachen dachte ich an sie, an meine körperliche Liebe zu ihr, an Truchatschewski und daran, dass zwischen ihr und ihm alles entschieden war. Entsetzen und Wut pressten mir das Herz zusammen. Aber ich versuchte, mich zur Vernunft zu bringen. ‹Unfug›, sagte ich mir, ‹es gibt gar keinen Grund, es ist nichts, und es war nichts. Wie kann ich sie und mich
nur mit solchen grässlichen Unterstellungen erniedrigen. Ein stadtbekannter Nichtsnutz, eine Art Stundengeiger – und eine ehrbare, geachtete Frau und Mutter, meine Ehefrau! Absurd!› – so sah ich es von der einen Seite. ‹Es muss so sein, zwangsläufig!›, dachte ich auf der anderen Seite. Wie sollte etwas nicht wahr sein, das so einfach und klar war – ebendies war ja der Grund, aus dem ich mit ihr zusammenlebte, das Einzige, was ich von ihr wollte und was deshalb auch andere wollten, nicht zuletzt dieser Musiker. Er war ein unverheirateter, gesunder Mann (ich sah ihn vor mir, wie er knackend einen Knorpel in einem Kotelett zerbiss und wie seine roten Lippen gierig das Weinglas umschlossen), er war satt, feist und nicht etwa ohne Prinzipien, vielmehr folgte er dem Prinzip, dass man die Freuden, die sich einem bieten, genießen muss. Und er war mit ihr verbunden durch die Musik, also die raffinierteste sinnliche Wollust. Was sollte ihn aufhalten? Nichts. Im Gegenteil, alles ermunterte ihn. Sie? Aber wer war sie? Sie war mir immer ein Geheimnis gewesen. Ich kannte sie nicht. Ich kannte sie nur als Tier, und ein Tier kann und soll nichts aufhalten.
    Jetzt erst erinnerte ich mich an ihre Gesichter an jenem Abend, als sie nach der ‹Kreutzersonate›
noch etwas Kurzes, Leidenschaftliches spielten, ich weiß nicht mehr, von wem, ein Stück von geradezu obszöner Sinnlichkeit. ‹Wie konnte ich nur wegfahren?›, sagte ich mir beim Gedanken an diese Gesichter. ‹War nicht klar, dass an diesem Abend zwischen ihnen schon alles geschehen war? Und war nicht deutlich zu sehen, dass nicht nur an diesem Abend schon keine Schranke mehr zwischen ihnen bestand, sondern dass auch beide, vor allem sie, eine gewisse Scham empfanden über das, was zwischen ihnen vorgefallen war?› Ich sehe noch ihr mattes, klägliches, glückseliges Lächeln, und wie sie sich den Schweiß vom geröteten Gesicht wischte, als ich ans Klavier trat. Zu diesem Zeitpunkt vermieden die beiden es bereits, einander anzusehen, und erst beim Souper, als er ihr Wasser einschenkte, tauschten sie einen Blick und ein rasches Lächeln. Mit Schrecken erinnerte ich mich jetzt an diesen von mir aufgefangenen Blick und das kaum merkliche Lächeln. ‹Ja, alles ist entschieden›, sagte die eine Stimme in mir, und sogleich sagte die andere Stimme etwas ganz anderes. ‹Du phantasierst, das kann gar nicht sein›, sagte diese andere Stimme. Mir wurde es unheimlich, im Dunkeln zu liegen, ich riss ein Streichholz an, und auf einmal bekam ich Angst in diesem
kleinen Zimmer mit den gelben Tapeten. Ich holte meine Zigaretten hervor, und wie man es gewöhnlich tut, wenn man sich pausenlos im Kreis dreht, verstrickt in immer dieselben unauflöslichen Widersprüche, rauchte ich eine Zigarette nach der anderen, um mich zu benebeln und um die Widersprüche nicht zu sehen.
    Ich konnte die ganze Nacht nicht mehr einschlafen, und um fünf Uhr morgens war mir klar, dass ich diese Spannung nicht länger aushielt, ich musste sofort abreisen; ich stand auf, weckte den Nachtwächter, der mich bediente, und schickte ihn nach Pferden. An die Versammlung schrieb ich, ich sei in einer dringlichen Angelegenheit nach Moskau gerufen worden, und bat darum, dass mich ein anderes Mitglied vertreten möge. Um acht Uhr stieg ich in einen Tarantas 25 und fuhr ab.»

XXV
    Der Schaffner kam herein, bemerkte, dass unsere Kerze heruntergebrannt war, und löschte sie, setzte aber keine neue ein. Draußen begann es hell zu werden. Die ganze Zeit, solange der Schaffner im Wagen war, schwieg Posdnyschew
und seufzte schwer. Er setzte seine Erzählung erst fort, als der Schaffner hinausgegangen war und man im halbdunklen Wagen nur noch das Klirren der Fensterscheiben des fahrenden Zuges und das gleichmäßige Schnarchen des Kommis hörte. Im Zwielicht der Morgendämmerung konnte ich Posdnyschews Gesicht nun gar

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