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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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hervor und setzte mich hin.
    Lange saß ich so da. Ich dachte an nichts, erinnerte mich an nichts. Ich hörte, dass sie draußen hastig hin und her liefen. Ich hörte, wie jemand eintraf, und dann noch jemand. Schließlich nahm ich wahr, dass Jegor meinen Reisekorb hereinbrachte. Als hätte den noch jemand gebraucht!
    ‹Weißt du, was passiert ist?›, sagte ich. ‹Sag dem Hausmeister, man soll die Polizei benachrichtigen. ›
    Er ging wortlos hinaus. Ich stand auf, schloss die Tür ab, nahm Streichhölzer und Zigaretten und zündete mir eine an. Ich hatte noch nicht zu Ende geraucht, als mich der Schlaf überwältigte. Ich muss wohl zwei Stunden geschlafen haben. Ich weiß noch, ich träumte, dass meine Frau und ich uns einig waren, wir hatten uns gestritten, nun aber versöhnten wir uns; irgendetwas störte zwar ein wenig, aber wir waren uns einig. Ein Klopfen an der Tür weckte mich. ‹Das ist die Polizei›, dachte ich im Aufwachen. ‹Ich habe sie ja umgebracht, glaube ich. Oder vielleicht ist sie es
auch selbst, und es war gar nichts.› Es klopfte noch einmal. Ich antwortete nicht, ich grübelte: War das alles wirklich passiert oder nicht? Ja, es war wirklich passiert. Ich erinnerte mich an den Widerstand des Korsetts und das Einsinken der Klinge, und es lief mir kalt den Rücken hinunter.
    ‹Ja, es ist wirklich passiert. Dann bin jetzt also ich an der Reihe›, sagte ich zu mir selbst. Doch noch während ich es aussprach, wusste ich, dass ich mich nicht umbringen würde. Trotzdem stand ich auf und nahm wieder den Revolver in die Hand. Es war seltsam: So nahe ich dem Selbstmord früher auch oft gewesen war, so leicht er mir noch tags zuvor in der Eisenbahn erschienen war, weil ich daran gedacht hatte, welchen Eindruck ich damit auf meine Frau machen würde – jetzt konnte ich mir nicht einmal vorstellen, mich umzubringen. ‹Wozu sollte ich das tun?›, fragte ich mich, und ich fand keine Antwort. Wieder klopfte es an der Tür. ‹Ich muss erst nachsehen, wer da klopft. Für das andere ist noch Zeit genug.› Ich legte den Revolver weg und deckte ihn mit einer Zeitung zu. Ich ging zur Tür und zog den Riegel auf. Es war die Schwester meiner Frau, eine gutmütige, dumme Witwe.

    ‹Wassja! Was bedeutet das?›, sagte sie, und die Tränen, die bei ihr nie fern waren, strömten ihr aus den Augen.
    ‹Was willst du?›, fragte ich grob. Mir war klar, dass es völlig unnötig und sinnlos war, grob zu ihr zu sein, aber mir fiel kein anderer Ton ein.
    ‹Wassja, sie stirbt! Iwan Fjodorowitsch sagt, sie stirbt.› – Iwan Fjodorowitsch war der Arzt und Ratgeber meiner Frau.
    ‹Ist er etwa hier?›, fragte ich, und meine ganze Wut auf sie kam wieder hoch. ‹Nun, und weiter?›
    ‹Geh zu ihr, Wassja. Ach, ist das entsetzlich›, sagte meine Schwägerin.
    ‹Soll ich hingehen?›, fragte ich mich. Und sogleich gab ich mir die Antwort: Ja, das müsse ich, es sei wahrscheinlich so üblich, wenn ein Mann seine Frau umgebracht habe, dann müsse er wohl unbedingt zu ihr gehen. ‹Wenn das so üblich ist, dann muss ich hin. Für das andere ist immer noch Zeit, wenn es nötig wird›, dachte ich und folgte meiner Schwägerin. ‹Jetzt wird es Phrasen und Grimassen geben, aber darauf falle ich nicht herein.›
    ‹Warte›, sagte ich zu meiner Schwägerin, ‹ohne Stiefel sieht das dumm aus, lass mich wenigstens in die Pantoffeln schlüpfen.›»

XXVIII
    «Es war erstaunlich! Als ich auf den Flur trat und durch die vertrauten Räume ging, stieg auch jetzt wieder die Hoffnung in mir auf, es wäre gar nichts passiert, doch da traf mich dieser widerliche Arztgeruch nach Jodoform und Karbolsäure. Nein, es war wirklich passiert. Als ich am Kinderzimmer vorbeikam, sah ich meine kleine Lisa. Sie schaute mich erschrocken an. Tatsächlich kam es mir vor, als wären alle fünf Kinder hier versammelt und schauten mich an. Schließlich stand ich vor der Tür, das Stubenmädchen machte mir auf und kam heraus. Das Erste, was mir auffiel, war ihr hellgraues Kleid, das über einem Stuhl lag, ganz schwarz vom Blut. Auf unserem Doppelbett, eigentlich sogar auf meinem Bett – an diese Seite kam man leichter heran – lag sie. Sie hatte die Knie angezogen und lag sehr flach auf einigen Kissen, ihre Jacke war aufgeknöpft. Die Wunde war mit irgendetwas abgedeckt. Im Zimmer hing der schwere Geruch des Jodoforms. Der stärkste Eindruck war ihr geschwollenes Gesicht mit dem großen Bluterguss auf der Nase und unter dem Auge: die Folge

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