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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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meines Schlags mit dem Ellbogen, als sie mich hatte festhalten wollen. Von ihrer Schönheit war
nichts übrig, sie widerte mich eher an. Ich blieb an der Schwelle stehen.
    ‹Geh nur hin, geh zu ihr›, sagte ihre Schwester.
    ‹Wahrscheinlich will sie mir beichten. Soll ich ihr verzeihen? Nun, sie liegt im Sterben, da kann man ihr wohl verzeihen›, dachte ich in einem Versuch, großmütig zu sein.
    Ich trat zu ihr. Sie schlug mühsam die Augen zu mir auf, von denen eines blau geschlagen war; mühsam und stockend sagte sie: ‹Hast du es endlich geschafft … bist mich los …› – Durch das physische Leiden, ja durch die Nähe des Todes hindurch trat auf ihr Gesicht derselbe kalte, instinktive Hass, den ich von früher kannte. ‹Aber die Kinder … die kriegst du nicht … Sie nimmt sie zu sich …› (sie meinte ihre Schwester). Was für mich die Hauptsache war, ihre Schuld, ihre Untreue, schien ihr offenbar nicht erwähnenswert.
    ‹Sieh dir nur an, was du angerichtet hast›, sagte sie, den Blick auf die Tür gerichtet, und schluchzte auf. In der Tür stand ihre Schwester mit den Kindern. ‹Ja, das hast du angerichtet.›
    Ich sah die Kinder an, dann sie mit ihrem blau angelaufenen, zerschlagenen Gesicht, und zum ersten Mal vergaß ich mich selbst, meine Rechte,
meinen Stolz, zum ersten Mal sah ich einen Menschen in ihr. So nichtig kam mir mit einem Mal alles vor, was mich gekränkt hatte, meine ganze Eifersucht, und so bedeutsam das, was ich getan hatte, dass ich mein Gesicht auf ihre Hand sinken lassen und sie um Verzeihung bitten wollte – aber ich wagte es nicht.
    Sie hatte die Augen geschlossen und schwieg, offenbar außerstande, weiterzusprechen. Ein krampfhaftes Zucken lief über ihr entstelltes Gesicht. Kraftlos schob sie mich weg. ‹Und wozu das alles? Wozu?›
    ‹Vergib mir›, sagte ich.
    ‹Vergeben? Unsinn! … Nur nicht sterben›, rief sie laut, richtete sich etwas auf und sah mich aus fiebrig glänzenden Augen an. ‹Ja, du hast es geschafft! … Ich hasse dich! … Au! Ah!›, schrie sie erschrocken, offenbar im Fieberwahn. ‹Ja, bring mich ruhig um, ich fürchte mich nicht … Aber nicht nur mich, alle, ihn auch. Er ist fort! Fort!›
    Aus dem Delirium wachte sie nicht mehr auf. Sie erkannte niemanden mehr. Am selben Tag gegen Mittag starb sie. Mich hatten sie schon vorher, um acht Uhr morgens, aufs Polizeirevier und von dort ins Gefängnis gebracht. In den elf Monaten, die ich auf meinen Prozess wartete, dachte ich über mich und meine Vergangenheit
nach, und ich habe sie schließlich begriffen. Es war am dritten Tag, dass ich anfing zu begreifen. Am dritten Tag brachten sie mich …»
    Er wollte weitersprechen, aber er konnte die Tränen nicht zurückhalten, er brach ab. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, fuhr er fort:«Ich habe erst angefangen zu begreifen, als ich sie im Sarg sah …»Er schluchzte auf, sprach aber schnell weiter:«Erst da, beim Anblick ihres toten Gesichts habe ich begriffen, was ich getan hatte. Ich habe begriffen, dass ich es war, der sie getötet hatte, ich allein, nur an mir lag es, dass sie zuvor lebendig, beweglich, warm gewesen war und nun starr, wächsern und kalt dalag, und dass sich das nie mehr, nirgends, durch nichts korrigieren ließ. Wer das nicht erlebt hat, der kann es nicht verstehen … Oh! oh! oh!», rief er einige Male laut und verstummte.
    Wir saßen lange wortlos da. Wortlos saß er mir gegenüber, schluchzend und bebend.
    «Verzeihen Sie …»
    Er wandte sich ab, legte sich auf die Bank und deckte sich mit einem Plaid zu. Als ich aussteigen musste – es war um acht Uhr morgens -, trat ich zu ihm, um mich zu verabschieden. Ob er schlief oder nur so tat, jedenfalls regte er sich nicht. Ich berührte ihn mit der Hand. Er schlug
die Decke zurück, und ich sah, dass er nicht geschlafen hatte.
    «Leben Sie wohl», sagte ich und reichte ihm die Hand. Er gab mir ebenfalls die Hand und lächelte ein wenig, aber so traurig, dass ich am liebsten geweint hätte.
    «Ja, verzeihen Sie», wiederholte er das Schlusswort seiner Erzählung.

ZUR NEUÜBERSETZUNG DER«KREUTZERSONATE»
    Am 29. August 1889, just zum Abschluss seiner siebten Fassung der Kreutzersonate , notiert Lew Tolstoi in seinem Tagebuch:«Dachte daran, dass ich nur aus Eitelkeit so lange an der Kreutzersonate herumschreibe – weil ich nicht will, dass das Publikum etwas von mir sieht, das unfertig, ungelenk oder gar schlecht ist. Und das ist falsch. Man muss schreiben wie ein Narr in

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