Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Christo.»Die literarische Eitelkeit, ja die schöne Literatur überhaupt steht für Tolstoi schon seit Längerem unter moralischem Verdacht. In seiner Schrift Worin mein Glaube besteht (1883) stellt er sie in eine Reihe von«Zerstreuungen (…), die Lüsternheit in mir wecken – Romane, Gedichte, Musik, Theater oder Bälle, in denen ich früher nicht nur harmlose, sondern ausgesprochen vornehme Formen von Unterhaltung sah», die er nun aber, nach seiner religiösen Wende, für verderblich hält. Die Literatur bleibt ihm zwar ein essenzielles Medium der Mitteilung, aber sie soll nicht dem ästhetischen Vergnügen dienen:«Kunst»,
so fasst er später zusammen,«ist nicht Ausdruck von Emotionen durch äußere Zeichen, nicht Erzeugung gefälliger Gegenstände, und vor allem ist sie nicht Genuss, sondern sie ist ein für das Leben und das Streben nach Heil des einzelnen Menschen und der Menschheit unabdingbares Mittel zur Verständigung»( Was ist Kunst , 1897- 1898). Dieses Postulat gilt auch für die Kreutzersonate . Der formalen Kritik seines Freundes Nikolai Strachow stimmt Tolstoi zwar zu, gleichzeitig lehnt er aber jede Schönheitskorrektur ab: Er sei überzeugt, dass seine Gedanken notwendig und neu seien und dass die Leser sie als solche auch in dieser Gestalt erkennen würden.
Hat der große Romancier zur Zeit der Kreutzersonate also der Literatur den Rücken gekehrt und kleidet nur noch seine reformerischen Ideen in eine mehr oder minder gleichgültige sprachliche Form? Tatsächlich ist der Bruch in Tolstois Werk weniger radikal, als seine eigenen Aussagen es vermuten lassen. Einerseits lässt sich das erzählerische Temperament nicht einfach unterdrücken, und noch in seinen auf den ersten Blick so zähen Traktaten zu sozialen, ethischen und religiösen Fragen finden sich immer wieder wunderbar farbige Bilder und mitreißende Szenen – Passagen, in denen der Bann, den der
Moralist Tolstoi über das Kunstschöne verhängt hat, in Vergessenheit geraten scheint. Andererseits aber zeigen sich Verachtung für die polierte Oberfläche und Eigenwilligkeit im Umgang mit der stilistischen Konvention auch schon in seinen früheren Texten – in Anna Karenina ebenso wie in Krieg und Frieden . In der Kreutzersonate ist dieser Gegensatz von Sprödigkeit und literarischer Kraft allenfalls noch verschärft. Erbarmungslos werden nun nicht nur Schlüsselwörter wiederholt, sondern auch scheinbar unwichtige Partikel; zu extremer Kargheit reduziert sind die Verba dicendi («sagte»…«sagte»…«sagte»). Auf der anderen Seite gibt es auch hier die gewohnte tolstoische Schärfe der Beobachtung, es gibt umwerfend komische Momente und Bilder von großer Intensität – der leuchtende Herbstmorgen, an dem Posdnyschew seine Rückreise nach Moskau antritt, die Licht- und Schatteneffekte bei der nächtlichen Droschkenfahrt vom Bahnhof, in deren Betrachtung der Protagonist sich vorübergehend verliert …
In dieser Spannung liegt eine Besonderheit der Kreutzersonate . Eine weitere Besonderheit ist, dass gerade die literarische Enthaltsamkeit des Autors künstlerischen Mehrwert produziert. Nicht nur sorgen seine Wiederholungen für eine Beschleunigung
des Lesetempos; nicht nur ist die manische Beharrlichkeit, mit der hier die radikalsten Thesen vorgebracht werden, ein wesentlicher Zug des Protagonisten; nicht nur dienen die parallelen Synonymketten, die sich durch den Text ziehen (ekelhaft / widerwärtig, furchterregend / schrecklich), dessen innerer Rhythmisierung und Verdichtung – der trockene, unschöne,«ungemütliche»Charakter dieser Erzählung lässt sie heute auch erstaunlich modern wirken. Es ist ein zentrales Anliegen der vorliegenden Übersetzung, diese nüchterne Modernität sichtbar zu machen und damit den überzeitlich gültigen Kern der Geschichte hervortreten zu lassen. Stellenweise mag dies auf Kosten der Geschmeidigkeit gehen, doch wie Tolstoi sagt:«Die Kunst ist kein Genuss, kein Trost und kein Spaß: Die Kunst ist eine große Sache.»
Olga Radetzkaja
Die Zitate aus Worin mein Glaube besteht und Was ist Kunst entstammen dem Band Tolstoi als theologischer Denker und Kirchenkritiker (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. Übersetzungen von Dorothea Trottenberg und Olga Radetzkaja).
KEUSCHHEIT EINES FAUNS ODER LEW TOLSTOI ALS FRAUENRECHTLER
Nachwort von Olga Martynova
«… die eine Seite von ihm lebt leidenschaftlich für alle irdischen Güter; ich kenne keinen anderen Menschen, der alles so
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