Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
leidenschaftlich mit seinem ganzen Wesen genießen kann: die Natur, die Musik, die Feste und alles, alles, was Freude bereitet. Und neben dieser Seite gibt es eine andere, die all das verleugnet, die qualvoll all das zu töten sucht, im Namen der Nächstenliebe und der Verteilung der Güter unter allen.»
Sofja Tolstaja in einem Brief an Afanassij Fet, 10. Juni 1887
HABEN SIE DIE«KREUTZERSONATE»SCHON GELESEN?
Noch bevor die Kreutzersonate 1891 zum ersten Mal gedruckt wurde, erregte sie gewaltiges Aufsehen. Bereits 1889 wurde sie einem ausgewählten, aber doch breiten Publikum zugänglich gemacht (zum Beispiel erlaubte Lew Tolstoi seiner Schwägerin, in Petersburg eine private Lesung zu veranstalten). Während die Veröffentlichung durch die Zensur verzögert wurde, verbreiteten sich in Russland und auch im Ausland unzählige Kopien des Manuskripts. Der Philosoph Nikolai
Strachow schrieb Tolstoi im April 1890:«Sie wissen bestimmt, dass man den ganzen Winter lang nur über die Kreutzersonate sprach, und anstatt ‹Wie geht es Ihnen?› fragte man: ‹Haben Sie die Kreutzersonate schon gelesen?›»
Auch Anton Tschechow hatte sie schon gelesen:«… Kaum kann ich ein anderes Werk nennen, das diesem in der Bedeutung seiner Anlage und in der Schönheit seiner Ausführung ebenbürtig wäre. Außer für die künstlerischen Qualitäten, die stellenweise verblüffend sind, ist man der Novelle dafür dankbar, dass sie das Denken bis zum Äußersten anregt. Wenn du sie liest, willst du beinah schreien: ‹Das ist wahr!› oder ‹Das ist unsinnig!›», schrieb er am 15. Februar 1890 an einen Freund.
Isabel Hapgood, eine amerikanische Übersetzerin, verfasste im Frühjahr 1890 (ebenfalls vor der Veröffentlichung der Kreutzersonate ) einen Artikel für The Nation , in dem sie erklärte, warum sie die neue Novelle des von ihr verehrten«Count Lyoff Tolstoi»(so die richtige, verloren gegangene Aussprache des 19. Jahrhunderts: Ljow!) nicht übersetzen wollte:«Solch morbide Psychologie kann kaum von Nutzen sein, scheint mir, so ungern ich den Grafen Tolstoi auch kritisieren möchte.»
Die unzähligen literarischen Reaktionen auf die Kreutzersonate reichen bis ins 21. Jahrhundert hinein: So betitelte zum Beispiel die niederländische Autorin Margriet de Moor ihre Eifersuchtsnovelle leichthin … Kreutzersonate (2001).
Dabei bleibt die eigentliche Kreutzersonate eines der am häufigsten missverstandenen Werke der Weltliteratur. Neben der Bibel und Lolita .
DICHTUNG UND MORAL
Für die meisten Leser war und bleibt die Kreutzersonate ein weiteres belletristisches Werk des Autors von Krieg und Frieden und Anna Karenina . Tolstoi sah sich jedoch als einen vollkommen anderen Menschen und Autor, als er zu Zeiten seiner beiden großen Romane gewesen war. Die Zäsur war eine schwere Lebenskrise, die Tolstoi Ende der 1870er-, Anfang der 1880er-Jahre durchlitten und später ausführlich in seiner Beichte beschrieben hatte. Todesangst, ein Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens, panische Zustände überwältigten ihn, während er, ein weltberühmter Autor, ein glücklicher Ehemann und Familienvater, den Gipfel des irdischen Glücks erreicht zu haben schien. Das war nicht ganz unvorhersehbar.
Trotz aller Wendungen gibt es eine Kontinuität in Tolstois Charakter. Diese Kontinuität liegt in seiner Widersprüchlichkeit. Seit jungen Jahren – das wissen wir aus seinen Tagebüchern – führte er einen Kampf mit und um sich selbst. Seine Hauptgegner waren Jähzorn, Eitelkeit und Wollust. Das Erstrebenswerte: Disziplin, Selbstvervollkommnung, sinnvolle Arbeit, durch eine Ehe gesegnete Liebe. 1862 heiratete der vierunddreißigjährige Tolstoi die sechzehn Jahre jüngere Sofja Behrs und brachte sie auf sein Landgut, um fernab des städtischen Gehetzes ein patriarchalisches Leben zu führen. Sofja Tolstaja war stolz und glücklich, die Frau eines von ihr bewunderten Schriftstellers zu sein, und war ihm bei allem Beginnen zu Diensten.
Bald aber fing für den Grafen Tolstoi der Kampf von vorn an: Alle Dämonen waren wieder da. Ebenso der Wunsch, sich von ihnen zu befreien. Anfang der 1880er-Jahre entwickelte er eine Weltanschauung, die nicht nur jede Gewalt (von der Wehrpflicht bis zum Fleischverzehr) ablehnte, nicht nur das Eigentum als eine abscheuliche Form des Lebens auf Kosten anderer verurteilte, sondern auch die Ehe, die Kunst, die Kirche und vieles andere, was früher der Inhalt seines Lebens gewesen war, ganz verleugnete
oder harter
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