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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Notwendigkeit geworden, nur wenn sie mit ihm zusammen war, wurde sie ein wenig lebhafter. Doch hatten sie die Rollen getauscht. Jetzt war er gesprächig und behandelte sie liebevoll und sanft, als gelte es, sie zu beschützen und ihre Nerven zu beruhigen. Sie saß schweigend neben ihm, hörte sich an, was er ihr von seinen Reisen erzählte, vom Leben in den verschiedenen Ländern, die er besucht und in denen er sich dienstlich aufgehalten oder zu seinem
Vergnügen gelebt hatte, und seine Stimme wirkte besänftigend auf sie, brachte sie dazu, sich gänzlich dem geliebten Mann zu fügen. Rot vor Erregung, forderte sie ihn manchmal auf, ihr von seinen früheren Leidenschaften zu erzählen. Er vermied es, darauf einzugehen, da er sah, wie sehr sie diese Fragen aufwühlten, und beschwichtigte sie mit liebevollen Worten und Gemeinplätzen. Doch sie kam immer wieder darauf zurück. Diese Gespräche riefen in ihr das Gefühl wach, das man hat, wenn man bei einsetzendem Kopf- oder Zahnweh fest auf die schmerzhafte Stelle drückt und dieser neue Schmerz den alten zu beheben scheint und ihn für kurze Zeit vergessen macht.
    So stand es um Anna, und diesen Schmerz konnte sie während ihrer ganzen Brautzeit nicht loswerden.

VI
    Endlich wurde der Hochzeitstermin festgesetzt. Wie ein Traum blieb dieser ganze Tag Anna in Erinnerung. Die Verwandten des Fürsten fanden sich ein und ihre eigenen, angekleidet wurde sie von verschiedenen Freundinnen, Natascha und Olga Pawlowna weinten, als sie ihr die Blumen
und den Schleier ansteckten. Schemenhaft nahm sie die Brautführer mit den weißen Blumen im Knopfloch wahr. Dann fuhren viele, sehr viele Drei- und Viergespanne vor, die Pferde mit bunten Bändern geschmückt, die Kutscher in festlicher Kleidung. Auch ihre Kutsche fuhr vor, in die Mischa, in einer weißen Matrosenbluse und mit einer Ikone in den Händen, hineingeschoben wurde und in der sie mit ihrer Patin Platz nahm, Olga Pawlownas Tante, einem alten Hoffräulein, das aus Petersburg angereist war.
    In der Kirche waren viele Leute; Ljubascha bemerkte sie und Marfa und all die bekannten Gesichter aus dem Dorf. Die Trauungszeremonie berührte sie kaum noch, zu sehr war sie erstarrt, geradezu versteinert.
    Zu Hause hatte man im großen Salon die Tische gedeckt und mit Blumen und Früchten geschmückt; daneben standen irgendwelche unbekannte Lakaien.
    Als die Mutter Anna vor der Trauung segnete, war diese plötzlich kurz aufgewacht, um zu begreifen, dass etwas in ihrem Leben abriss: Etwas, was vom Tage der Geburt an ihr Leben ausgemacht hatte, endete mit dem heutigen Tag, jetzt, in dieser Stunde, und plötzlich stieg ihr heftiges Weinen in die Kehle, sie warf sich der Mutter
an den Hals und brachte schluchzend hervor:«Leb wohl, Mama, leb wohl. Ich hatte es zu Hause so gut! Mama, hab Dank für alles! Weine nicht, o Gott, weine bitte nicht! Du bist doch froh? … Ja? …»
    Endlich war alles vorüber. Eine große neue Dormeuse 5 fuhr vor, an der man die Truhen befestigte, ein Lakai des Fürsten schwang sich auf den Bock, und dann war es an Anna, die inzwischen ein Reisekleid angezogen hatte, mit ihrem Mann Platz zu nehmen. Noch einmal hörte sie den Klageschrei ihrer Mutter, hörte, wie der laut weinende Mischa weggebracht wurde, die Tür klappte zu, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
    Es war September. Nieselregen fiel; die sechs wunderschönen Pferde, die der Fürst von seinem Gut hatte kommen lassen, platschten laut durch die Pfützen des breiten Feldweges; die angezündeten Laternen spiegelten sich in dem schmutzigen Wasser, es war feucht und dunkel. Nach dem hell erleuchteten Haus voller Gäste und vertrauter, lieber Gesichter war es ein allzu jäher Übergang zur Finsternis der Nacht und zur Stille der trostlosen ländlichen Natur. Anna saß in der Kutschenecke und weinte leise.
    «Mich stimmt es traurig, meine Freundin, dass
unsere Eheschließung dir so viel Kummer bereitet hat», sagte der Fürst, indem er Annas Hand ergriff und küsste.
    «Sie konnten doch nicht annehmen, dass es mir nicht leid tun würde, sie alle zu verlassen?»
    «Warum ‹Sie›? Du liebst mich nicht, ich bin dir immer noch fremd, meine Freundin.»
    «Ich werde mich daran gewöhnen, du zu Ihnen zu sagen, einstweilen ist das noch so unnatürlich! »
    «Aber du liebst mich, sag es mir …»Der Fürst neigte sich in der Dunkelheit der Kutsche zu Anna hinüber und küsste leidenschaftlich ihre erkalteten zarten Wangen.
    «Ich glaube, ich liebe Sie»,

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