Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
erwiderte Anna fügsam und musste wieder an ihre Mutter denken, an Mischas Tränen, an ihr Zimmer, das sie mit Natascha geteilt und in dem sie ein Mädchenleben voll Poesie verbracht hatte, sie musste auch daran denken, dass sie in wenigen Stunden schon anderswo zu Hause sein würde, und das für immer.
Plötzlich fühlte sie, dass der Fürst sie behutsam umarmte und an sich zog, sodass sie sein unangenehm erregtes Gesicht aus nächster Nähe sah und seinen stoßweise gehenden warmen Atem hörte, der nach Tabak und Parfum roch.
Erschrocken und ergeben warf sie den Kopf zurück, schloss die Augen und drückte sich in die äußerste Ecke der Kutsche. Der Fürst hielt sie umfangen und küsste sie leidenschaftlich.
«Ja, das muss wohl alles so sein», dachte sie,«Mama hat mir gesagt, dass man fügsam zu sein hat und sich über nichts wundern darf … Mag es geschehen … Aber … Mein Gott, wie schrecklich und … wie beschämend, wie beschämend …»
Die Kutsche fuhr dahin. Bis zum Gut waren es sechzig Werst 6 . Auf halbem Wege standen Pferde zum Wechseln bereit, und sie mussten Aufenthalt nehmen in einem dazu vorbereiteten, sonst leer stehenden Nebengebäude eines unbewohnten Anwesens. Als die Kutschentür geöffnet wurde, sprang Anna rasch heraus und lief durch Pfützen zur Vortreppe und durch die geöffnete Tür in ein geräumiges lichterfülltes Zimmer. Sie warf den Regenmantel ab, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Sofa und betrachtete, am ganzen Körper zitternd, den gedeckten Tisch mit dem Samowar, den angeheizten Kamin und die gesamte fremdartige Einrichtung.
«Warum bist du so erschrocken? Koch doch Tee, mein Herz», sagte der Fürst und gab ihr einen Kuss.
«Ja, gleich», antwortete Anna, wie aus einer Starre erwachend, und hob ihren schamhaft gesenkten Kopf.«Woher auf einmal dieses Gefühl der Fremdheit und Peinlichkeit ihm gegenüber? », dachte sie.
«Wie verdrießlich und belastend ist es doch, dass sie vor allem solche Angst hat», dachte der Fürst.«Was soll denn werden? Schließlich ist es der Beginn dieser gepriesenen, gerühmten Flitterwochen! Sollte Ängstlichkeit und wehmütige Fügsamkeit alles sein, was ich bei ihr auslöse?»
Es sollte alles sein. Dem Kind wurde Gewalt angetan; dieses Mädchen war nicht auf die Ehe eingestellt; die aus Eifersucht kurz erwachte weibliche Leidenschaft schlief wieder ein, niedergedrückt von Scham und Abscheu vor den fleischlichen Gelüsten des Fürsten. Was blieb, waren Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Furcht. Anna sah die Unzufriedenheit ihres Mannes, wusste nicht, wie sie dem abhelfen sollte, verhielt sich fügsam – doch das war schon alles.
Weiterzufahren erschien unmöglich, der Fürst konnte sich dazu auch nicht entschließen. Strömender Regen, Dunkelheit, schlechte Wegverhältnisse – all das hielt das junge Paar fest, es blieb ihnen nichts übrig, als in dem fremden Haus zu übernachten.
VII
Am nächsten Morgen trafen die Jungvermählten auf dem luxuriösen Gut des Fürsten ein. Seine alte Mutter begrüßte sie mit einer Ikone und mit Brot und Salz. Anna gewann die sanfte, sittsame alte Fürstin sofort lieb. Sie spürte in ihr eine freundliche weibliche Stütze ihres künftigen Lebens in diesem Haus, und ihr wurde leicht ums Herz.
Anna unternahm einen Rundgang durch das ganze prachtvolle, vortrefflich gebaute und schön möblierte alte Haus, machte sich mit dem Gesinde bekannt, erkundigte sich, wo ihr Zimmer war, und ging ans Auspacken und Einrichten in ihrem neuen Zuhause. Entsprechend ihrem künstlerischen Geschmack verlieh sie dem Raum dank der mitgebrachten und als Geschenk erhaltenen Gegenstände ein so hübsches und originelles Gepräge, dass der Fürst von seinem Anblick höchst beeindruckt war. Kinderspielzeug war ebenso dabei wie Bücher, Porträts, Studien, ihre Staffelei mit einem angefangenen Gemälde und Vasen mit bunten Herbstblumen und Blättern.
Doch in diesem wunderbar gestalteten Zimmer saß nicht mehr die alte Anna. Sie war außerstande, sich irgendetwas vorzunehmen: Weder
ihre Malerei noch die Bücher, ja nicht einmal ein Spaziergang durch die herrlichen Gärten und Wälder ihres neuen Aufenthaltsortes konnten ihr Freude bereiten. Sie fühlte sich zerschlagen, traurig und krank.
«Warum bin ich so antriebslos geworden?», fragte sie sich häufig.«Ich habe mich doch aus Liebe auf diese Ehe eingelassen, wir haben vorher ja so viele und schöne Gespräche geführt, während ich mich jetzt vor ihm
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