Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
meine alte Gewohnheit nicht los, jede junge Frau mit Männeraugen zu betrachten. Nur durch dich werde ich immer besser und besser.»
«Das gibt er auch noch zu!», dachte sie entsetzt und sagte zornrot:«Wie? In diesem Bauernweib kannst du eine Frau sehen? Pfui, als gäbe es keine anderen Interessen auf der Welt.»
«Ich sage dir doch, dass das einmal war, jetzt ist es vorbei.»
«Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht!»
«Was ist das bloß, Anna, was hast du für einen üblen Charakter! Das ist ja unerträglich!»
«Mag sein. Aber ich hasse Zynismus und Amoralität, was ich liebe, ist Sauberkeit, während du das Gegenteil liebst.»
«Du hast kein Recht, so zu reden.»
«Doch, das habe ich, ich bin deine Frau.»
«O Gott, wie grauenhaft! Wie grauenhaft!», sagte der Fürst.
«Nicht für dich ist es grauenhaft, sondern für mich …»
Ihr Streit dauerte ziemlich lange, und zum ersten Mal war er derart quälend. Den ganzen Abend sahen sich die Ehegatten nicht. Anna legte sich schlafen, der Fürst kam nicht. Diese Art des Umgangs war für Anna schrecklich traurig; außerdem bemächtigte sich ihrer aufs Neue rasende Eifersucht angesichts seiner möglichen Untreue. Sie lag mit offenen Augen wach und lauschte, ob ihr Mann nicht endlich käme. Doch er kam nicht. Allmählich legte sich ihre Eifersucht, und sie wünschte sich ein einfaches, harmonisches Verhältnis des Vertrauens, damit ihr Glück nicht mehr diese Schläge hinnehmen
musste, die immer weniger von ihm übrig ließen. Sie sprang aus dem Bett, warf ihren Morgenmantel über, schlüpfte in die Hausschuhe und lief zum Arbeitszimmer des Fürsten.
Er saß auf dem Diwan und starrte schweigend und düster vor sich hin. Als die Tür aufging und er Anna sah, nahm sein Gesicht einen zornigen Ausdruck an.
Sie hielt einen Moment unentschieden inne und wollte schon gehen, aber dieses gestörte Verhältnis bekümmerte sie so, dass sie sich zur Aussöhnung entschloss.«Warum kommst du nicht schlafen?», fragte sie.
«Wie soll ich denn schlafen können, mein Herz pocht bis jetzt von diesen Szenen! Du treibst mich noch in den Herzinfarkt …»
Annas Miene verfinsterte sich, doch sie überwand sich.«Es tut mir sehr leid, dass ich dich verstimmt habe. Sei mir bitte nicht böse.»
Sie trat näher und setzte sich zu ihrem Mann. Er sah sie befremdet, aber schon sanfter an. Das stimmte sie froh, sie fasste nach seiner Hand und lächelte. Der Fürst zog sie an sich und gab ihr einen Kuss.
Als Anna erkannte, dass die Versöhnung nicht so geschehen würde, wie sie es sich mit heißem Verlangen wünschte, nicht als seelisch reine,
wirkliche Versöhnung, sondern als eine durch Küsse, befiel sie Entsetzen und Verzweiflung.«Ach, mein Freund, küss mich bitte nicht! Dafür bin ich tot, ich kann mich nach seelischem Schmerz nicht so aussöhnen. Lass mich bitte und verzeih mir …»Sie riss sich los, sprang auf, öffnete die Tür und lief davon.
Er hörte noch lange die sich entfernenden Schritte ihres raschen und leichten Gangs.«Eine seltsame und unverständliche Frau!», dachte er.«Und wie sich ihre Schönheit verliert, ein Eckzahn wird schon gelb.»
Von Tag zu Tag welkte Anna mehr dahin. Die alte Fürstin sprach davon, dass ihre Augen begonnen hätten, in sich hineinzublicken: «La pauvre petite est souffrante» , 9 und tatsächlich machte ihr die erste Schwangerschaft sehr zu schaffen. Die meiste Zeit lag sie unwohl im Zimmer der alten Fürstin und fühlte sich bedrückt, krank und schwach. Selbst der Gedanke an das Kind, das sie haben würde, bereitete ihr kaum Freude, so tief war sie einer Art Apathie des Leidens anheimgefallen.
Der Fürst, der sich anfangs fast immer zu Hause aufgehalten hatte, war zu seiner alten Gewohnheit zurückgekehrt, ständig in die Stadt, zu
Nachbarn oder auf die Jagd zu fahren. Er langweilte sich offensichtlich und ertrug die Verfassung seiner Frau nicht.
So verging Tag für Tag, so verging der Winter und das Frühjahr, und der Sommer brach an. Nie vergaß Anna diesen Abschnitt ihres Lebens. Diese junge, noch unentwickelte Natur fühlte sich alldem nicht gewachsen: Weder physisch noch moralisch war sie vorbereitet auf die schwierige Situation als werdende Mutter, noch dazu in völliger Einsamkeit. Deprimiert von ihrem permanenten Unwohlsein und der Gleichgültigkeit ihres Mannes, wurde sie unduldsam und reizbar. Wenn der Fürst sich verspätete, geriet Anna in Verzweiflung, weinte hysterisch und beklagte sich, gemartert zu werden.
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