Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
das Kind, das sie erwartete, wieder eine größere Nähe zwischen ihnen herstellen und die Entfremdung behoben werden könnte, die sie in letzter Zeit so gequält hatte.
Allmählich verlor sie jegliche Fähigkeit, etwas zu denken oder zu fühlen. Die Tortur war kaum noch auszuhalten. Volle vierundzwanzig Stunden dauerte sie schon, und ein Ende war nicht abzusehen. Längst hatte man aus der Stadt einen Arzt herbeigeholt; alle waren völlig zermartert, die alte Fürstin hatte vor sämtlichen Ikonen Kerzen und Öllämpchen angezündet und betete, Tränen in den Augen, in ihrem Zimmer. Der Fürst lief immer wieder aus dem Schlafzimmer seiner Frau und ließ sich erschöpft auf den Diwan im Wohnzimmer fallen; er fühlte, dass seine Erschöpfung ihre äußerste Grenze erreicht hatte.
Die schrecklichen, wilden Schreie Annas verfolgten ihn überallhin. Sich weit von ihr entfernen konnte er nicht. Anna wollte ihn um keinen Preis fortlassen, doch bei ihr zu bleiben war ihm unerträglich.
Die zweite helle Sommernacht brach an, als sich nach einem qualvollen Geburtsvorgang mit schrecklicher Betriebsamkeit und gemeinsamer letzter Kraftanspannung das vollzog, was alle so ungeduldig erwartet hatten. In Annas Zimmer erscholl zunächst ein unmenschlicher, furchterregender Schrei der Gebärenden, dem gleichsam unverhofft, wie aus einer anderen Welt kommend, die ungewohnte, aber alle froh machende Stimme des Säuglings folgte, dieses geheimnisvollen Wesens aus unbekannten Gefilden.
Der Fürst schluchzte auf und beugte sich über seine Frau.
Die bekreuzigte sich und sagte:«Gepriesen seist du, Herr!»Dann blickte sie ihren Mann an, hielt ihm ihre Stirn hin, die er küsste, und ließ sich völlig entkräftet in die Kissen sinken.
Als man Anna ihren gewaschenen und gewindelten Sohn brachte, betrachtete sie lange das schrumplige rote Gesichtchen, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss. Statt der erwarteten Freude empfand sie etwas Bedeutsameres. Dies
war das Glück, das Ziel des Lebens, sein Sinn; dies war die Bestätigung ihrer Liebe zu ihrem Mann, dies war ihre künftige Pflicht, und dies bedeutete für sie keine Spielerei, wie sie gemeint hatte, sondern wieder Leiden und Tätigsein.
Das Kind in den Armen, fühlte Anna, dass sie ihre mütterlichen Pflichten mit ebenso unerschütterlicher Treue erfüllen würde wie ihre Pflichten als Ehefrau, wie sie es dem Fürsten bei seinem Heiratsantrag versprochen hatte.
Als der Fürst einen ersten Blick auf seinen Sohn warf, ging es ihm durch und durch. Unangenehm berührt wandte er sich ab und sagte:«Na, das ist nichts für unsereins. Soll er mal groß werden, dann ist es etwas anderes.»
Das zu hören tat Anna weh. Dass der Fürst so seinem ersten Sohn begegnen würde, hatte sie in keiner Weise erwartet.«Sollte es denn möglich sein, dass er ihn nicht lieben wird?», dachte sie entsetzt, und ihr fiel die unlängst gehegte Hoffnung ein, dass das Kind die Entfremdung zwischen ihnen aufheben und sie wieder in Liebe verbinden könnte. Sie seufzte und trocknete sich die Tränen.
ZWEITER TEIL
I
Zehn Jahre waren vergangen. Anna lebte nach wie vor mit ihrer Familie auf dem Lande. Die einzige Veränderung in ihrem Leben war der drei Jahre zurückliegende Tod der alten Fürstin, der sie in Trauer das beste Andenken bewahrte.
Sie selbst hatte sich sehr verändert. Aus dem schmächtigen jungen Mädchen war eine stattliche, energische Frau von berückender Schönheit geworden. Unermüdlich rege und tätig, umringt von vier prächtigen gesunden Kindern, schien sie glücklich und mit ihrem Leben vollauf zufrieden. Der Fürst, leicht ergraut, aber noch genauso elegant, schön und gesittet, hatte dem Anschein nach ein unverändert gutes Verhältnis zu seiner Frau. Doch war im seelischen Leben der Ehegatten kaum mehr etwas Gemeinsames geblieben, und dies hatte Auswirkungen auch auf ihr äußeres Leben. Die Liebe des Fürsten, die ihn bewogen hatte, Anna zu heiraten, hatte nicht
lange andauern können. Er war ein Mann des Erfolgs, er brauchte vielfältige Gefühlsregungen, so war er es gewohnt! Ein stilles Familienleben auf dem Lande langweilte ihn, und Anna fühlte, dass er nichts dafür konnte. Seine Langeweile indessen ängstigte sie. Sie liebte ihren Mann, sie war eifersüchtig und befürchtete, auch den Rest an Liebe zu verlieren, den er ihr dank ihrer Schönheit, ihrem Frohsinn und ihrer blühenden Gesundheit noch nicht entzogen hatte. Sie fühlte, dass diese Liebe nicht das war, was sie sich
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