Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Seidenbluse aus und warf sie auf einen Stuhl; bei dem Gedanken, ihr Mann könnte bald hereinkommen, beeilte sie sich niederzuknien. Sie bat Gott um seelische Ruhe und Kraft, um allem Ungemach im Leben zu widerstehen, sie bat um Vergebung ihrer Sünden. Tränen der Rührung und des Selbstmitleids flossen ihr aus den Augen. Ihre nackten Schultern bebten, doch sie bemerkte nichts und hörte nicht einmal, wie der Fürst eintrat. Er begriff nicht gleich, dass sie betete, und drückte seine Lippen leidenschaftlich auf ihre entblößten Schultern.
Anna zuckte zusammen, griff ihren peignoir 8 vom Stuhl, zog ihn rasch über und setzte sich aufs Bett. In ihren Augen waren noch Tränen.«Wieder das , alles läuft nur auf das eine hinaus», ging es ihr durch den Kopf. Doch gestattete sie sich nicht, an diesem Gedanken festzuhalten, und es fiel ihr auch gleich eine Rechtfertigung ihres Mannes ein.«Er hat nicht gemerkt, dass ich bete, er liebt mich ja so! Und auf diese Weise äußert sich eben seine Liebe.»Und so fort.
Am nächsten Morgen kamen wieder ihre Modelle, die beiden Kinder, doch Anna hatte keine Lust zu malen. Die Sonne schien grell zu den Fenstern herein, erster Schnee war gefallen, und Anna lief mit den Kindern in den Garten, raschelte
die Wege entlang durch das mit frostigem Schnee vermischte Laub. Ihr war leicht und froh ums Herz, sie fühlte sich selbst wie ein Kind – sorglos, rein und schön wie die Natur ringsum. Sie wünschte sich, wenigstens für einen kurzen Moment wieder so zu werden wie zuvor: ihre quälende Eifersucht ebenso zu vergessen wie diese letzte Phase der groben leidenschaftlichen Verliebtheit ihres Mannes und die Gleichgültigkeit, mit der er sie anschließend behandelte. Minutenlang wurden ihre Gedanken tatsächlich abgelenkt, obwohl sich im Grunde ihres Herzens die ewige, unlösbare und peinigende Frage weiter regte:«Weshalb ist er heute so zärtlich und sieht nur Gutes in mir, während ich morgen nach seinen stürmischen Liebkosungen plötzlich an allem schuld bin, sodass er mich mürrisch anknurrt und besonders schmerzhaft zu verletzen trachtet? Wie soll ich verstehen, worin meine Schuld besteht? Er ist doch so klug, gütig, gebildet … Und ich? Ach, ich bin so unentwickelt! »
Als Anna sich ausgelaufen hatte und schon im Begriff war, den Heimweg anzutreten, tauchte ihr Mann, fröhlich, frisch und elegant, am Ende der Allee auf. Erfreut eilte sie ihm entgegen.«Wo kommst du her?», wollte sie wissen.
«Beim Nachbarn war ich, wir haben über die Fabrik gesprochen, die wir zusammen bauen wollen.»
«Über die Fabrik? Was für eine?»
«Eine Branntweinbrennerei. Das ist sehr einträglich. »
«Wie? Ihr wollt Wodka brennen?»
«Nun ja. Was soll die alberne Verwunderung? », fragte der Fürst mit gewohnt gereizter Stimme, wie er nach der leidenschaftlichen Phase seiner Liebe mit ihr zu sprechen pflegte.
«Nein, das ist keine alberne Verwunderung, ich verstehe einfach nicht, wie man etwas herstellen kann, was das Volk ins Verderben stürzt.»
«Wie oft habe ich dich gebeten, dich nicht in meine geschäftlichen Angelegenheiten einzumischen», sagte der Fürst und legte einen Schritt zu, sodass seine Frau zurückblieb.
«Ach, entschuldige bitte. Renn doch nicht so, lass uns zusammen gehen!»Annas Lippen zitterten, und Tränen traten ihr in die Augen.
Der Fürst sah sich erstaunt um und fand, dass ihre Schönheit in letzter Zeit sehr gelitten habe.«Du bist wohl heute nicht bei Laune?», vermutete er.
«Ich?», sagte Anna verwundert, da ihr einfiel, wie fröhlich sie noch am Morgen gewesen war.
Auch die fügsame Zärtlichkeit ihres Mannes von gestern Abend fiel ihr ein, und sie reagierte auf seine Bemerkung mit einem stummen, befremdeten Blick des Vorwurfs. Sie wurde nachdenklich, und es erschien ihr sonderbar, dass dieser Mann, den sie liebte und den sie in allem zu unterstützen und zu bestärken bereit war, Wodka herstellen würde, damit das Volk der Trunksucht verfiel! Sie konnte ihn doch hierin nicht bestärken!«Und weshalb ist er so ärgerlich auf mich? Was habe ich getan?»
Sie redeten nicht mehr miteinander. Eine junge Bäuerin ging mit kraftvollen Schritten an ihnen vorbei, grüßte fröhlich ihre Herrschaft und entschwand ihren Blicken, sich in den Hüften wiegend unter dem weiten Bäuerinnenrock. Anna zuckte zusammen. Der Fürst sah der Bäuerin nach, lächelte leicht, als er den neugierigen und unwilligen Blick seiner Frau bemerkte, und gestand schuldbewusst:«Ich werde
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