Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Das, worin ihre Kraft lag, ihre Macht über ihren Mann – ihre Schönheit -, war zeitweilig verwelkt, etwas anderes brauchte er anscheinend nicht, und das löste in ihr ohnmächtige Verzweiflung aus. Der Fürst seinerseits litt unter ihrer zermürbenden Unausgeglichenheit; als wohlerzogener und beherrschter Mensch behandelte er seine Frau schonungsvoll, doch in dieser schonungsvollen Behandlung spürte sie Unaufrichtigkeit und Kälte.
Was hätte Anna dafür gegeben, jetzt ihre Mutter und ihre Schwester bei sich zu haben! Doch
sie waren für lange Zeit ins Ausland gefahren, nach einer Lungenentzündung Mischas, dem untersagt worden war, den Winter in Russland zu verbringen.
Es war ein heißer Julitag und die Getreideernte auf den Feldern in vollem Gange. Eine reiche Ernte wurde eingebracht, und wenngleich es den Fürsten zu Hause nicht hielt, vermied er es in letzter Zeit, sich zu weit von seiner Frau zu entfernen, und widmete sich in Erwartung ihrer Niederkunft seinen gutswirtschaftlichen Obliegenheiten.
Nachdem er ganze Tage auf dem Feld oder der Tenne zugebracht hatte, beaufsichtigte er jetzt, da das Getreide eingefahren wurde, das Schobern. Während er auf der Tenne umherging, dachte er an seine Frau – blass, mager, mit verunstalteter Figur, die großen ernsten schwarzen Augen oft fragend und vorwurfsvoll auf ihn gerichtet – und verglich sie unwillkürlich mit dem jungen, robusten Bauernweib, das soeben rosig und fröhlich auf einem Leiterwagen an ihm vorbeigefahren war. Er wusste, dass sie vor zwei Wochen ein Kind zur Welt gebracht hatte und dass es gestorben war, doch hatte sie dieses Geschehen ohne Tränen und Nervenkrise hingenommen,
und jetzt arbeitete sie frohen Mutes und im Einklang mit der Natur an der Seite ihres jungen Mannes.
«Und wir?», dachte der Fürst. Er verzog das Gesicht und zündete sich eine Zigarre an.«Ach ja, ich verbiete, auf der Tenne zu rauchen», fiel ihm ein, und er schlug den Weg zum Wald ein. Hinter ihm wurden eilige Schritte hörbar, die näher kamen. Er wandte sich um.
«Belieben Sie nach Hause zu kommen, die Fürstin sind unwohl», sagte das Dienstmädchen ganz außer Atem und machte schleunigst kehrt. Sie wusste, dass der Fürst begreifen würde, worum es ging. Er bedachte sich eine Minute wie einer, dem eine Operation bevorsteht und der noch überlegt:«Lässt sich das nicht irgendwie vermeiden?»Doch mit dem Gefühl, der Sache nicht entgehen zu können, nahm er sich zusammen und trat rascheren Schritts den Heimweg an.
Zu Hause herrschte bereits emsiges Treiben. Man hatte die Betten umgestellt, einiges hinausgetragen und einen schmucken Stubenwagen mit weißem Musselinvorhang hereingerollt. Die fremde Dame, die dem Fürsten allein durch ihre Anwesenheit in letzter Zeit so sehr auf die Nerven gegangen war, jung und elegant, aber mit aufgekrempelten Ärmeln und einer weißen Schürze,
gab Anweisungen. Die Wirtschafterin Pelageja Fjodorowna war am eifrigsten zugange. Die aufgeregte alte Fürstin trat wortlos zu Anna, bekreuzigte sie, küsste sie auf die Stirn. Anna selbst saß teilnahmslos in einem Sessel am Fenster und lauschte in Erwartung ihres Mannes auf das, was in ihr vor sich ging. Der Ausdruck ihres erhitzten Gesichts war feierlich und ernst; das Haar ringelte sich goldig schimmernd auf Stirn und Schläfen, die großen schwarzen Augen blickten, ohne von jemandem Notiz zu nehmen, wissbegierig und furchtsam.
Als der Fürst eintrat, eilte Anna ihm entgegen.«Weißt du, es wird bald sein, heute vielleicht. Wie sonderbar und freudvoll das ist: mein Kind! Was für ein Glück! Ich werde alles ertragen, ich fühle mich sehr tapfer …»Mitten in ihrer hastigen Rede stöhnte sie plötzlich auf:«Da, wieder …»Sie presste die Hand des Fürsten, ihr Gesicht verzerrte sich, sie nahm niemanden mehr wahr, die Qualen wurden immer schlimmer. Wenige Sekunden später gewann ihr Gesicht seinen ruhigen Ausdruck zurück.«Es ist wieder vorbei», sagte sie aufatmend.
«Es wird Zeit, dass Sie sich hinlegen, Fürstin», sagte die Dame mit der Schürze, deren Anwesenheit der Fürst als so störend empfand.
«Du gehst doch nicht weg? Um Gottes willen, Liebster, bleib bei mir», beschwor Anna ihren Mann.
«Natürlich gehe ich nicht weg», sagte der Fürst.«Beruhige dich. Wie erregt du bist, mein Herz», fügte er zärtlich hinzu und strich ihr die angeklebten Haare von den Schläfen.
Anna schmiegte ihre heiße Wange an die Hand ihres Mannes und überlegte froh, dass sich durch
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