Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
gewünscht hatte; das bereitete ihr oft Kummer, und um diese Leere in ihrem Herzen auszufüllen, widmete sie sich den Kindern mit besonders leidenschaftlicher Fürsorge. Ihr Mann hingegen verhielt sich kühl zu ihnen, und Anna fiel es schwer, sich an seine Gleichgültigkeit gegenüber dem zu gewöhnen, was den Mittelpunkt ihres äußeren und inneren Lebens darstellte. Alles musste sie allein durchstehen: Krankheiten, Zweifel an den Stärken und Schwächen der Kinder, Entscheidungen in Bezug auf ärztliche Behandlung und Erziehung, Kinderfrauen und Gouvernanten. Sie erteilte den Kindern selbst Unterricht, da sie es für notwendig hielt, sich möglichst viel mit ihnen abzugeben, um sie besser zu verstehen. Entweder schwieg der Fürst zu Annas Reden
über die Erfolge, Charaktere und Krankheiten der Kinder, oder er lächelte gezwungen und gab seine gewohnt sanften und höflichen Sätze zur Antwort, zum Beispiel wie froh er sei, dass ihr Sohn so gut lerne, dass der kleine Juscha bedauerlicherweise von Geburt schwächer sei als die anderen oder dass Manja in ihrem neuen Pelzmäntelchen wirklich niedlich aussehe. Diese achtjährige Manja war der Liebling des Fürsten: Sie war sehr hübsch und sprach fließend Französisch mit einer echt Pariser Aussprache, die sie von ihrer Gouvernante übernommenen hatte und die ihn amüsierte.
Sein Leben hatte sich in nichts verändert: Er kümmerte sich weiter um die Gutswirtschaft, ging auf die Jagd und schrieb seine Aufsätze. Doch Anna sah, dass er alles lust- und antriebslos tat. Er langweilte sich, langweilte sich unerträglich. Das Familienleben war ihm eine Last. Sosehr sich Anna auch bemühte, Zerstreuungen für ihren Mann zu finden, und darauf achtete, mit ihm zusammen Nachbarn zu besuchen oder in die Stadt, zu Wahlen, zu Semstwo-Versammlungen 10 und dergleichen zu fahren – all das hielt nicht lange vor. Zudem nahmen die Kinder sie stark in Anspruch. Immerzu mit ihnen beschäftigt – bald hieß es das eine füttern, bald das zweite
umhertragen, bald dem dritten Unterricht erteilen -, fand Anna zwischen ihren häuslichen Obliegenheiten häufig keine Zeit, einfach einen Spaziergang oder eine Ausfahrt mit ihrem Mann zu machen.
In einer solchen Situation und Gefühlslage pflegt man mit einer notwendig scheinenden Veränderung der Lebensumstände zu reagieren. Der Fürst begann davon zu sprechen, dass er seine über diverse Periodika verstreuten Beiträge gern als Buch herausbringen würde. Für eine Drucklegung sei seine Anwesenheit in der Stadt erforderlich, deshalb schlage er Anna vor, ein paar Monate in Moskau zu verbringen. Sie stimmte sofort zu, sah sie darin doch die einzige Möglichkeit für ihn, Zerstreuung zu finden. In letzter Zeit bemerkte sie, dass er häufig die Gesellschaft junger Frauen suchte, in der er sichtlich auflebte. Er legte neuerdings besondere Sorgfalt auf sein Äußeres und zeigte sich beunruhigt, weil sein ehedem prächtiges Lockenhaar zunehmend ergraute und sich lichtete. Sie bekam Angst, dass in ihrem äußerlich wohlgeordneten Heim etwas durcheinandergeraten könnte, und so beschloss sie, energisch für seine Bewahrung zu kämpfen, damit der familiäre Zusammenhalt, vor allem der Kinder wegen, keinen Schaden nahm.
Die Abfahrt nach Moskau wurde für Ende Oktober angesetzt. Der Fürst sagte, er wolle vorher noch in einem abgelegenen Revier auf die Jagd gehen und sich dann an sein Buch machen.
Am ersten September versammelte sich auf dem Hof des fürstlichen Hauses eine kleine, aber illustre Jagdgesellschaft. Die Kinder erfreuten sich bei der Verabschiedung des Vaters an den Pferden und besonders an den Hunden. Manja suchte Notschka, einer schönen schlanken englischen Windhündin, ein Stück Zucker ins Maul zu stecken. Der scheckige, marmorbraune Drakon riss an der Koppel und winselte vor Ungeduld. Die weiße Milka lief frei herum und wartete auf den Fürsten.
Endlich trat er aus dem Haus, verabschiedete sich von Anna und den Kindern, schwang sich auf seinen Kabardiner 11 , sagte, er werde frühestens in drei Tagen zurück sein, und ritt rasch davon.
Es ging über die Felder zu einem entlegenen Gut von Bekannten, und Anna wusste, dass unter den Jägern eine abseits lebende Nachbarin sein würde, eine Dame, die in letzter Zeit mit dem Fürsten heftig kokettierte. Über diese Dame gab es viel Gerede, auch hieß es, er sei vor seiner Heirat in sie verliebt gewesen. Das alles beunruhigte
Anna sehr, sie hätte ihren Mann gern begleitet, stillte aber
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