Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
den Fürsten. Etwas Unnatürliches, Gelassenes, Rätselhaftes und zugleich Selbstbewusstes durchdrang ihr ganzes Wesen, etwas, was sie vor ihm bewahrte, an das sie ihn nicht heranließ. So richtig verstanden hatte er sie nie, jetzt aber verstand er sie weniger denn je.
Auf dem Dorf erholte sich Anna zusehends. Ihr behandelnder Arzt wies den Fürsten darauf hin, dass trotz dieser Erstarkung seine Frau sich in Acht nehmen müsse, ein Rückfall sei möglich, und zwar nicht nur einmal.«Baden im Fluss, wenn es heiß ist, möglichst viel Ruhe und Schluss mit der Vergrößerung der Familie», fügte er dezent lächelnd hinzu.
Der Fürst verzog nur wortlos das Gesicht.
Anna beriet sich noch mit einer ihr bekannten Ärztin und beschloss ungeachtet des Missmuts des Fürsten, alle Anweisungen zu befolgen, um wieder gesund, stark und schön zu werden.
Und das gelang ihr auch. Die Ratschläge der Ärzte taten ihre Wirkung; Anna erblühte gleichzeitig mit der Pracht der Natur, gewann an Lebhaftigkeit und Schönheit, und ihre eingeschlafene Energie erwachte mit solcher Kraft, dass sie
oft meinte, jetzt alles bewältigen, alle menschlichen Fähigkeiten auf einmal entfalten zu können.
Nachdem sie sich in ihrer gewohnten ländlichen Atmosphäre eingerichtet hatte, genoss sie zunächst ganz die Freuden der Frühjahrseindrücke, der Freiheit, der Natur. Die Stimmung des Fürsten hellte sich gleichfalls auf, und er ging gelassener und sanfter mit seiner Frau um. Oft schlug er ihr Spaziergänge vor, erzählte ihr von seinen Gedanken im Hinblick auf seine Aufsätze und das soeben erschienene Buch und suchte ihr Interesse für die Gutswirtschaft zu wecken.
«Sollte es tatsächlich noch möglich sein, dass wir einander näherkommen?», dachte Anna froh. Sie war ihrem Mann gegenüber aufmerksam und liebevoll, kam seinen Wünschen nach und suchte ein engeres Verhältnis zwischen ihm und den Kindern herzustellen. Wie es in Zeiten familiären Wohlergehens oft zu sein pflegt, genoss Anna ihr Glück, verdrängte Fragen und Zweifel, all das, was diese glückliche Gesamtstimmung hätte trüben können. Wie einfach, wie bereitwillig gab sie sich wieder der Liebe zu ihrem Mann hin. Noch einmal von der Zuversicht erfüllt, dass sie mit ihm glücklich sein könne, dass ihr Zerwürfnis zufällig und vorübergehend
gewesen sei, verhielt sie sich zu ihm in höchstem Maße zutraulich und teilnahmsvoll. Alle Gedanken an Bechmetew trachtete sie aus ihrem Herzen zu verbannen, in welchem er bereits einen festen Platz eingenommen hatte.
Doch die verliebte, friedfertige Stimmung des Fürsten hatte ihre Grenzen und hielt wieder einmal nicht lange an.
Mitte Mai, an einem für diese Jahreszeit selten heißen Tag, stand Anna ungewohnt früh auf und trat auf die Terrasse. Die ganze Familie schlief noch. Anna ließ nachsehen, ob Manja und ihre Gouvernante nicht doch schon auf seien, damit sie sie mitnehmen könne. Doch auch sie schliefen noch. Da ging sie allein in den Wald. Der Morgen war wundervoll, wie er es nur im Mai zu sein pflegt, wenn die Natur noch nicht alles gegeben hat und weit mehr Schönheit und Erblühen verspricht, wenn alles frisch, farbkräftig und neu, wenn nicht wie im Sommer zu befürchten ist, dass bald schon all diese reife Schönheit verblassen und vergehen wird.
Als Malerin mit feinem Gespür für jegliche Schönheit konnte Anna sich nicht satt sehen und merkte gar nicht, wie sie zu dem zwei Werst vom Haus entfernten Fluss gelangte.
«Es täte gut, ein erstes Bad zu nehmen», dachte
sie und betrat das gerade erst neu eröffnete Flussbad. Sich auszuziehen und allein in das Wasser zu steigen kostete sie Überwindung. Doch das klare, stille Wasser wirkte mit seiner Frische so anziehend, dass sie eilig ihre Sachen ablegte und hineinsprang. Schritte und Stimmen wurden hörbar, und Anna kleidete sich rasch wieder an. Sie fühlte sich unbeschwert und frohgemut. Ihre Natürlichkeit gab sich leidenschaftlich diesem schlichten Familien- und Landleben hin; nichts schien es stören zu können. Leichtfüßig lief sie heimwärts und begegnete unterwegs dem Verwalter. Sie erkundigte sich, woher er komme und wohin er wolle. Er sagte, er sei die Felder zu Fuß abgegangen, weil das Pferd plötzlich gelahmt habe, und jetzt sei er auf dem Heimweg.«Es ist ja ein so herrlicher Morgen!», fügte er hinzu.«Und Euer Durchlaucht sind zeitig aufgestanden. »
Gespräche über die Gutswirtschaft, den Stand der Saaten, die vom Fürsten gekauften und aus
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