Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
er über alles auf der Welt liebte, ohne zu wagen, es ihr zu sagen, und deren Liebe er spürte. Anna sah diesen Ausdruck von Glück, und lange, lange danach, in einsamen schweren Momenten ihres Lebens, leuchtete ihr jener Blick von innen.
Sie fuhren weiter und weiter, und ihre Gedanken waren mit ein und demselben beschäftigt, ohne noch etwas zu verlangen, weder vom Schicksal noch einer vom anderen, und sie fühlten in dieser verschneiten, reinen, grenzenlosen Weite ihre Beziehung zur Natur, zu Gott und zur Ewigkeit, in der jetzt wie später und immerdar ein Leben zu leben war, das die Möglichkeit bot, glücklich und rein zu sein und uneigennützig und endlos zu lieben.
«Da sind schon die Lichter der Station», sagte Anna.
«Nun, Dmitri Alexejewitsch, Sie werden wohl im Bahnhof übernachten müssen», sagte der Kutscher.«Der Schneesturm ist schon losgebrochen. »
«Kann ich machen. Wir sind da, Fürstin.»
Auf dem Bahnsteig verabschiedeten sie sich mit einem einfachen Händedruck.
Bechmetew wartete die Abfahrt des Zuges ab und sah noch lange dem sich entfernenden Wagenende nach, das sich um eine Biegung schlängelte und unter einem Brückenbogen verschwand.
VII
Wie immer, wenn sich Anna ihrem Zuhause näherte, wuchs ihre Unruhe, wie sie es vorfinden würde und ob die Kinder gesund waren, von Minute zu Minute.
«Sind alle wohlauf zu Hause?», erkundigte sie sich bei dem Kutscher.
«Kann ich nicht wissen, ich habe nichts gehört, Euer Durchlaucht.»
Ihre Ungeduld und Unruhe steigerten sich bis zur Unerträglichkeit, als Anna das Haus erreichte und der Diener die Tür öffnete.
«Sind alle gesund?», fragte Anna wieder.
«Gott sei Dank, der Kleine hat bloß Fieber, sagte die Kinderfrau.»
Anna stockte das Herz.«Das habe ich gefühlt», dachte sie.
Nachdem sie sich am Ofen im Vorraum aufgewärmt hatte, eilte sie direkt ins Kinderzimmer.
Die älteren Kinder stürzten ihr mit dem Aufschrei«Mama ist da, Mama ist da!», entgegen.
«Juscha hat Fieber», verkündete feierlich Manja, die, wie alle Kinder, ihre Neuigkeit nicht schnell genug loswerden konnte. Anna lief zu dem Kinderbettchen und packte den kleinen Juscha, der beim Anblick seiner Mutter vor Aufregung losweinte.
Entsetzen und Verzweiflung überkamen Anna, quälende Gewissensbisse. Ihre ganze Reise und diese egoistische, so wenig zu ihr passende Schwäche erschienen ihr verwerflich. Sie betrachtete den weinenden, glühenden Kleinen und wagte nicht einmal, ihn zu küssen.«Ist nach dem Arzt geschickt worden?»
«Nein», erwiderte die Kinderfrau.«Der Fürst hat angeordnet, Ihre Ankunft abzuwarten.»
Anna schrieb rasch etwas für den Arzt auf und fragte, wo der Fürst sei.
«In seinem Arbeitszimmer, er arbeitet.»
«Ihn kümmert es natürlich nicht, dass Juscha krank ist», dachte sie bitter.
Der Fürst hatte sein Arbeitszimmer noch immer nicht verlassen, als der Arzt eintraf. Anna beobachtete fragend das Gesicht und die Bewegungen des berühmten Professors für Kinderkrankheiten
und erkannte, dass es schlecht um ihr Kind stand.
«Noch lässt sich nichts sagen, Fürstin. Morgen wird es sich zeigen. Das Fieber ist sehr hoch. Es dürften die Masern sein, möglicherweise mit Komplikationen», meinte der Arzt.
Der Kleine atmete schwer und hustete heiser. Der Fürst kam herein. Er begrüßte seine Frau und den Arzt und fragte:«Bis du schon lange da?»
«Seit zwei Stunden.»
Der Fürst sprach mit dem Arzt, wobei er verächtlich sein Misstrauen gegenüber der Medizin erkennen ließ, und verabschiedete ihn kühl.
«Ich komme morgen früh wieder, Fürstin», versprach der Arzt.
«Bitte.»Anna legte den eingeschlafenen Kleinen in sein Bettchen.«Gehen Sie essen, Njanja», sagte sie zu der Kinderfrau,«ich bleibe hier sitzen. »
Der Fürst blieb gleichfalls im Kinderzimmer und begann Anna über ihre Reise auszufragen.
«Wo hast du denn geschlafen?», wollte er unter anderem wissen.
«Im Haus des Verwalters natürlich, unser Haus ist ja nicht geheizt.»
«Wie unschicklich und dumm.»
«Was?!», fragte sie erstaunt.
«C’est un jeune homme, et je vous dis que ce n’est pas convenable; vous manquez toujours de tact.» 22
«Ich habe bei seiner Tante geschlafen», presste Anna mühsam hervor, verstummte und sah bekümmert in das Bettchen des schlafenden Kleinen.
«Bist du noch wo gewesen?», fragte sie der Fürst weiter aus.
«Ja, ich bin zu Warwara Alexejewna gefahren, um mir ihre Schule anzusehen, Dmitri Alexejewitsch habe ich auch
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