Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
diese junge, leidenschaftliche und vom Kummer abgehärmte Mutter.
«Sie müssen nicht derart verzweifelt sein, Fürstin», sprach er, während er dem Kleinen einen Brustwickel machte.«Sehen Sie, wie viel Leben in ihm ist – es geht ihm etwas besser, er spielt schon wieder.»
Die völlig zermürbte Anna war diesem Mann, der ihr, abgesehen von seiner ärztlichen Hilfe, in dieser schweren Phase ihres Lebens eine Stütze war und ihr Trost spendete, von Herzen dankbar.
Der kleine Juscha und die anderen Kinder wurden gesund. Anna lebte vorübergehend wieder auf und erholte sich seelisch. Die Stimmung des Fürsten heiterte sich ebenfalls auf. Er war froh, dass das Leben in seine alten Bahnen zurückgekehrt, dass Anna vom Kinder- wieder ins Schlafzimmer übergewechselt war und der Arzt seine Besuche eingestellt hatte. Anna durchschaute das alles, und die Liebe zu ihrem Mann bekam einen weiteren Riss. Nie vergaß und verzieh sie ihm seine Gleichgültigkeit gegenüber der Krankheit der Kinder und seine Teilnahmslosigkeit angesichts ihres Leids.
Als alle wiederhergestellt waren, hielt Annas geschwächter und erschöpfter Organismus nicht länger stand. Die über ihre Kräfte gegangene Pflege der Kinder, die schlaflosen Nächte, die sie oft damit verbracht hatte, den schweren Kleinen stundenlang durchs Zimmer zu tragen, die Unruhe des Herzens – all das führte zu einer Fehlgeburt und einem daraus resultierenden schweren Frauenleiden. Sechs Wochen lang musste sie das Bett hüten.
Der Fürst bekam zunächst einen gewaltigen Schreck, holte selbst den Arzt, schlief nächtelang nicht, befürchtete, die gewohnte Bequemlichkeit zu verlieren, eine junge, schöne und gesunde Frau zu haben. Bald war er zärtlich, bald nervösunruhig, bald reagierte er gereizt auf unvorsichtige Bewegungen seiner Frau und tadelte sie, sich nicht vorzusehen. Doch als die Gefahr vorüber war und Anna, bleich und still, wochenlang mit einem Buch oder irgendeiner Arbeit in den Händen dalag, begann er sich schrecklich zu langweilen und unter verschiedenen Vorwänden das Haus zu verlassen. Häufig ließ er sogar eine gewisse Feindseligkeit erkennen, weshalb Anna an das Sprichwort vom Ehemann, der eine gesunde Frau liebt…, 23 denken und über ihre Hinfälligkeit seufzen musste.
Nach und nach gewöhnte sie sich an diese zynische Einstellung ihres Mannes und an ihre Einsamkeit. Wie oft dachte sie an ihre Mutter und ihre Schwester, die sie jetzt hätten trösten können; doch sie lebten schon lange im Ausland, des kleinen Mischas wegen, den sie, da bei ihm eine Wirbelsäulenverkrümmung festgestellt worden war, jahraus, jahrein von einem Ort zum anderen brachten, um seine schwache Existenz aufrechtzuerhalten.
Anna umgab sich gern mit den Kindern und mit Büchern. Doch die Kinder ermüdeten sie, und sie wurden auf Anweisung der Ärzte von ihr ferngehalten. Die Bücher aber nahm ihr keiner weg. Selten hatte sie in ihrem Leben so viel Muße gehabt wie jetzt. Von den philosophischen Büchern im Arbeitszimmer ihres Mannes hatte sie nur wenige gelesen, andere aus Zeitmangel lediglich überflogen. Jetzt holte sie sich ihre philosophischen Lieblingswerke und schrieb beim Lesen die Stellen heraus, die ihr am meisten gefielen. Zwei Monate später ging sie ihr Notizbuch durch und wunderte sich selbst, wie sehr ihr Interesse vor allem der Frage des Todes galt, und zwar nicht im Sinne des Ausscheidens aus dem Leben, sondern im Hinblick darauf, dass es keinen Tod gibt. Ein neues religiöses Gefühl ergriff von ihrer
Seele Besitz. Das Maß aller Dinge war für sie der Glaube an die Unsterblichkeit. Hinter allem Weltlichen machte sie plötzlich den Punkt aus, für den es keine Begrenzung gab, durch den ihr geistiges Auge die Unendlichkeit und Unsterblichkeit erblickte, und ihr wurde leicht und froh zumute.«Alles, was darüber in unserer Kirchenlehre steht, spricht gleichfalls von der Unsterblichkeit… Epiktet 24 – der Philosoph, Heide und Sklave – hat begriffen, dass es keinen Tod gibt, dass der Tod die Absorption des menschlichen Verstandes durch den universellen Verstand ist», überlegte Anna bei der Durchsicht ihres Notizbuches.«Ja, uns wird dieser universelle Verstand absorbieren, diese Gottheit, die wir mit unserem ganzen Sein kennen, die wir lieben, von der wir ausgehen und deren Willen wir uns anheimgeben! »
In dieser neuen beseligten Stimmung verließ Anna Anfang April Moskau und fuhr mit ihrer Familie aufs Dorf.
VIII
Annas Stimmung beunruhigte
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